Nicht mehr Handelnde sondern Vollziehende

„Müssen anfangen, uns gelegentlich über Vorschriften hinwegzusetzen“, lautet die Headline zum Gespräch mit Hartmut Rosa im Der Standard vom 29. Okt 2025.  Ich schätze Rosa, weil er einige Grundtonalitäten unserer gesellschaftlichen Entwicklung sieht und formuliert, die ich auch spüre. „Unverfügbarkeit“ ist so ein Thema in einer Welt, die sich als „alles machbar“  und „alles möglich“ versteht und sieht. Da ist aber noch etwas viel Tieferes, was sich gerade im Weltbild vieler Menschen „entwickelt“.

„In vielerlei Hinsichten – vom Autofahren und Kochen, übers Lego-Spielen und Fußballspielen bis zur Politik und zur Wissenschaft – sind wir eigentlich nicht mehr als handelnde Akteure tätig, sondern nur noch als Vollzieher. Wir gehen entweder algorithmisch gesteuert, bürokratisch geregelt oder im Sinne von Optimierungsprozessen zum Vollziehen über, anstatt zu handeln. Mit Handeln meine ich, dass wir auf eine Situation reagieren und in ihr handeln – in der Regel auf der Basis unserer Erfahrungen und mittels unserer Urteilskraft, mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl. Überall, wo Menschen handeln, haben wir es mit komplexen Situationen zu tun. Die werden aber zunehmend auf einzelne Konstellationen reduziert und das wird dann vollzogen. Es gibt nur ja oder nein, richtig oder falsch, gültig oder ungültig.“ Das antwortet Rosa auf die Frage, was der Unterschied von Handeln und Vollziehen ist. Er hält in seinem Vortrag ein „Plädoyer für die Rückeroberung der Spielräume“. Schon seit langen Jahren kommt es dort und da immer auch aus meinem Mund: „Die Flucht aus der Excel-Zelle muss uns gelingen.“ Rosa bringt das zum Ausdruck, was auch ich wahrnehme in der technogen-technokrtisch gestalteten Welt, den Algorithmus als Basis und nicht die weite Gastfreundschaft. Das ist wiederum ein eigenes Thema.

Urteilskraft, Augenmaß und Fingerspitzengefühl

Ehrenamtlich und freiwillig sind zwei Begrifflichkeiten, die immer wieder im Raum schweben, gerade auch im kirchlichen Feld. Diese Wahrnehmungen und Betrachtungen von Hartmut Rosa machen es möglich, die Unterschiedlichkeit beider Zugänge zu begreifen. Wer ehrenamtlich tätig ist, ist eine Handelnde, ein Handelnder. Mit „freiwillig“ konnotiere ich eher eine Vollzieherin, einen Vollzieher. Oft scheint mir, dass im kirchlichen Feld (das immer noch schwer hierarchisch geprät ist) oft eher Freiwilligkeit im Vollzieher-Status gemeint, gewünscht ist. Ehrenamt heißt Gestaltungs- und Verantwortungsraum aufbauen, diesen Raum zu vergrößern und sich vom Gemeinsamen darin in Dienst nehmen lassen, auch als Person, nicht nur in Funktion. Im kirchlichen Feld heißt das, in offener und auf Augenhöhe basierender Synodalität zu tun – handeln –  und dafür einzustehen. Gerade hier heißt es, dort und da auch die Vorschriften (aus alter Zeit oder von einem hierarchischen Denken kommend) beiseite zu schieben, sie einfach hinter uns stehen zu  lassen, damit das entstehen kann, was Hartmut Rosa so fein schreibt: „ Mit Handeln meine ich, dass wir auf eine Situation reagieren und in ihr handeln – in der Regel auf der Basis unserer Erfahrungen und mittels unserer Urteilskraft, mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl.“ Das ermöglicht es, ganz nah bei den Menschen zu sein.

Spielräume wieder aufmachen

Dieser Tage habe ich in Kärnten einen sehr engagierten Mann getroffen, dem es ein Anliegen ist, das „ora et labora et lege“ (beten und arbeiten und lesen – hl Benedikt) als Grundprinzip zu etablieren. Immer wieder habe ich selber (gerade auch in der Zeit, wo ich bei und mit den Orden gearbeitet habe) die Frage in den Raum gestellt: Was davon ist das Wichtigste? Meist ein vorsichtiges Herumrätseln, beten? arbeiten? lesen? Das Wichtigste ist das „et“, das „und“. Vollzieher reduzieren auf einzelne Konstallationen, fragmentieren, sehen ihren Teil und sind schnell versucht, ins „ja-nein“, „entweder-oder“, „richtig oder falsch“, „gültig oder ungültig“ zu verfallen. Das wird in Folge der fruchtbare Boden für Polarisierungsmuster. Bei unserer KA-Begegnungs- und Lernreise nach Brüssel haben wir gehört, dass genau diese „Polarisierungsfalle“ die größte Bedrohung des Friedensprojektes EU darstellt. Unser Dossier wurde immer sehr neugierig in die Hand genommen. Demokratie leben und gestalten geht im „et-Modus“.  Am 12. Jänner 2026 erscheint das neue Buch von Rosa: „Situation und Kostellation – Vom Verschwinden der Spielräume“. Die Zeit nehme ich mir für das „et lege“.