Es braucht Widerstand gegen die Diktatur der Beschleunigung

Ich habe Gelegenheit, bei einem Gespräch mit Friedhelm Hengsbach SJ  im kleinen Kreis in der KSÖ dabei zu sein. Er hat aus meiner Wahrnehmung in sozialpolitischer und sozialethischer Hinsicht auf Basis der katholischen Soziallehre einen sehr tiefen Ein- und Überblick. So nehme ich die Einschätzung des 75-Jährigen zum Zustand der jetzigen politischen und gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen  wie eine tiefe und weite  Radaraufnahme wahr. Natürlich fallen die Keywords der heutigen Zeit: Druck, Mehrarbeit ohne Bezahlung, schneller, Arbeitskraftunternehmer, WissensarbeiterInnen, Leitkultur Tempo, Digitalisierung, Auflösung, Vernetzung, Profit. Da ließen sich noch 3 Zeilen anfügen.

Die Epochen der Beschleunigung

Hengsbach steht heute selber auch etwas unter Zeitdruck, weil der zum Zug nach München muss. Er schildert die Epochen der Beschleunigung: 1. Der Mensch zieht vom Dorf in die Stadt und wird beschleunigt. 2. Die fossilen Brennstoffe ermöglichen eine Fortbewegung mit ganz neuer Geschwindigkeit bis hin zum Flugzeug. 3. Die Digitalisierung hat eine neue Welle der Beschleunigung ausgelöst, wo noch weit nicht alle „mitkommen“. Am Beispiel des „Hochfrequenzhandels“ der digitalisierten Finanzmärkte zeigt Hengsbach, wie Staat und Gesellschaft „überrumpelt“ werden. Der Privatraum als Schutzraum wird durch alle Ebenen erobert. Der Mensch kann nicht mehr einfach „abschalten“. Und Hengsbach: „Die Frauen tun sich hier schwerer, weil sie dauernd und überall Bereitschaftsdienst haben.“ Die Beschleunigung trifft die Frauen. Kinder, Beruf und Mann treiben. Distanz ist nicht in Sicht.

Time and timeing

Woher kann der Widerstand kommen? Hengsbach wir im Dezember ein Buch vorlegen, das den Titel „Zeitrebellen“ tragen wird. Hengsbach; „Der Widerstand kann nur von unten kommen.“  Ich denke auch, dass die Bremsklötze in den Wohnungen, den Betrieben, den Schulen, den zivilen Initiativen und Vereinen liegen. Auch die Ordensgemeinschaften sprechen wir an und sie werden ihren Beitrag leisten, indem sie viel bewusster und klarer die ihnen eigene Rhythmisierung des Tages, der Woche und des Jahres leben. „Es gibt keinen Zeitmangel, sondern einen Mangel an Selbstbestimmung“, erklärt Hengsbach. Zeitstress ist also Autonomiemangel. Das denke ich auch immer. In der englischen Sprache gibt es Zeit und Timeing. Also gestalten der Zeit. Ich muss gestehen. Heute habe ich ganzen Tag im Garten gearbeitet und die Uhr war weit weg. Es war selbstbestimmtes Arbeiten für die ganze Familie. Ich habe jetzt am Abend das Gefühl. Es war nicht „Time“ sonder sinnerfülltes „Timeing“. Gestalten der Zeit. Es war im Nachhinein betrachtet ein Geschenk. Geschenkte Zeit.

Gott  hat alles zu seiner Zeit gemacht

Hengsbach kommt auf Kohelet. Alles Windhauch ist die Hauptassoziation. Das ist hier nicht das Thema. Es liegt dort viel zur Zeitgestaltung, wenn es heißt: „Gott hat alles zu seiner Zeit schön gemacht.“  Und weiter heißt es: „Er hat die Zeit in die Ewigkeit hineingelegt.“ Unglaublich für mich, wie man dann mit Termingeschäften in Millisekunden Profit macht. Gerade auch die Ordensgemeinschaften sind vom Grundgedanken getragen: „Das Leben kommt uns aus der Ewigkeit entgegen.“  Auf meine Nachfrage, was die Bedeutung der Ordensgemeinschaften ist, sagt Hengsbach: „Die Zeit zum Nachspüren offen halten.“ Das ist ein Wert an sich. Und ich bin froh, dass auf  dem Ziffernblatt meiner Uhr bei jedem Hinschauen mir das eine Wort begegnet: „JETZT“. Denn jetzt hat Gott alles gemacht. Es braucht diesen Widerstand aus dem Jetzt, diese Aufmerksamkeit aus einer gemeinsamen Verantwortung für die Gestaltung – der Zeit.