Am Lechweg in den Winter hinaufgehen

Holzgauer HängebrückeDer Oktober kann schon überraschen, besonders am Tiroler Lech entlang. Fast 130 Kilometer fließt das Wasser herunter. Wir gehen ihm entgegen, dem Wasser, hinauf zur Quelle und landen dabei mitten im Winter.  Weltanschauen heißt mit Überraschungen leben, etwas zu finden, was wir nicht gesucht haben und wunderbaren, inspirierenden Menschen zu begegnen.

Die Anreise der sechzehn TeilnehmerInnen aus fünf Bundesländern in Österreich  und aus Deutschland hat sich wegen Covid etwas „verzwickt“ gestaltet, hat aber bestens funktioniert. In Bayrischen Füssen sind wir alle beisammen, schlafen gut und beginnen am Lech-Fall unsere Intensiv_Zeit. Intensiv heißt gleich einmal dem Wasser zuschauen, das sich bewegt, fließt, weil es sich fallen lässt. Es fließt durch Loslassen oder es ruht in der Natur. Sich fallen lassen, das Loslassen tragen wir gleich ansteigend auf den Kalvarienberg. Eine Mega-Übersicht, eine Grabstätte mit dem „Sonnenlicht von der anderen Seite her“ überrascht uns, die wir dem Alltag entsteigen und dabei die ersten Schweißperlen im Gesicht spüren. Das Leben bleibt ein tiefes Geheimnis. Wir werden es jetzt tagelang gemeinsam gehend von immer anderer Seite und in anderen Kontexten betrachten. Die herbstliche, farbeprächtige Schönheit des Weges am Alpsee entlang mit Neuschwanstein im Hintergrund lässt uns immer wieder staunend stehen. Der „Israelit“ (ein Bergrücken) begleitet unseren Aufstieg hinüber ins Lechtal und zurück nach Österreich. Das gemeinsame Gehen wird begleitet von  frei schwingenden Gesprächen am Weg. Die Leute kennen einander bis hierher zum Großteil nicht. Ein annäherndes Gehen führt uns zur nächsten Unterkunft, wo uns auch die Wirtin über ihr derzeitiges Leben und Ringen erzählt.

Die Herrschaft oben und das Dorf unten

Wer früher aufsteht, für den bekommt das Frühstück immer einen gebührenden Platz und viel Zeit. Es ist die kraftvolle Annäherung an den kommenden Tag.  Stanzach nennt sich das Ziel. Es hat sich bewährt, mittags nur eine ganz kleine Kleinigkeit zu essen. Unser Gehen spannt sich eben aus zwischen einem guten Morgenessen und einem genussvollen Abendessen. So geht es sich leicht und körperliche Leichtigkeit macht sich breit bei den Kilometern Schritt für Schritt. Groß ist der Lech hier und nimmt sich seine Infrastruktur. In den letzten Jahren bekommt er sie teilweise wieder zurück. Macht Platz dem Lech, scheint die Devise. Nirgends angestautes Wasser. Was, wie und warum, wofür begleiten uns heute. Das tiefe Warum, Wofür, Wozu rückt  in die Mitte unserer Beobachtungen und Wahrnehmungen. Und siehe da. Eine Frau Notburga lässt sich am Fahrrad daherkommend einbremsen, stellt sich zu uns, erklärt uns frei, dass wir im Dorf Rieden vor leeren Herrschaftshäusern stehen und das Leben „im Dorf unten“ stattfindet. Die Frau stellt sich als „bunter Vogel“ heraus. Verschmitzt meint sie: „Ich bin die heilige Notburga.“ Und sie blinzelt mit den Augen. Als Beweis trägt sie ihr selbst geschriebenes Liebesgedicht vor, das vor Leidenschaft sprüht, ganz im Gegensatz zur „Dorf-Aura“.

Singender Protest für nachhaltige Menschlichkeit

Dass uns beispielsweise der „Lechtaler Kaffee-Klatsch“ in Haselgehr eine Pause bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen um die Mittagszeit abringt, lässt die Gruppe gemeinsam aufatmen. Andernorts liegen wir um die Mittagszeit im tiefen Gras entlang des Höhenweges, der unsere Blicke immer wieder in besonderer Weise über das Tag und den mäandernden Lech schweifen lässt. Näher am Lech wird das Rauschen des Wassers zur  Begleitmusik. Erst an der Quelle werden wir merken, wie uns diese Musik fehlt. Und Musik spielt im Tal eine besondere Rolle, vor allem die von Toni und Margit Knittel, die als „Bluatschink“ seit dreißig Jahren unterwegs sind, im Lechtal, in ganz Österreich und international. Sie kommen unsere Gruppe im Hotel Post in Bach besuchen. Maske auf, die Gitarre am Arm. Wir sitzen im Kreis. Ein unvergeßlicher Abend kündigt sich an. Toni erzählt vom Lechtal, den Kampf gegen die E-Wirtschafts-Bosse, die den Lech „nutzen“ wollten und den nachhaltigen Tourismus, die Entstehung des Lechweges. Alles gesungen mit seinen Liedern und einer inneren Kraft eines Menschen-Kraftwerkes. Wir erleben ein „Gaststuben-Konzert“. Volle Überraschung. Ich schenke ihnen mein Anpacken-Buch, weil sie darin vorkommen und weil ich der Überzeugung bin, dass genau solche Menschen das ökologische, soziale und spirituelle Leben hervorbringen, das in #LaudatoSi beschrieben wird. Erfüllt von Mut, Kreativität, Menschlichkeit, Ausdauer und Zuversicht gehen sie ihren Weg. Und wir suchen freuding und genährt in jeder Hinsicht den Schlaf.Bluatschink

Dengl

Mut für den wackeligen Übergang

Der Weg braucht Ausdauer, Geduld und zumindest an einer Stelle Mut. 105 Meter über dem Boden und 200 Meter ausgespannt über die Schlucht, gehen wir alle über die Holzgauer Hängebrücke.  Der Weg davor und danach ein Augenweide. Die Blicke hinunter auf den Talboden, auf die Flora und Fauna neben dem Weg beeindrucken. Aber dieser „wackelige Übergang“ bringt alle Seelen und Gleichgewichtssinne in Schwingungen. Alle haben es geschafft. Am Tagesziel in Steeg angekommen, halten wir bei der Holzstatue von Anna Dengl kurz inne. Sie hat von hier aus die missionsärztlichen Schwestern über die Kontinente hin gegründet und 38 Spitäler auf dieser Weltkugel erbauen lassen. Steeg ist ein kleiner Ort, der mit dieser wunderbaren Frau in der ganzen Welt wirkt. Unser Gehen geht außerhalb der Saison. Das führt uns mit dem Öffi-Bus zurück zum Hotel und tags darauf wieder zurück nach Steeg für den Aufstieg nach Warth und Lech. Der Nacht und der Natur ist die Überraschung gelungen: Wir gehen in den Winter hinauf. Ganz leiser Schneefall begleitet unseren Anstieg nach Lechleiten, das Hinübergehen nach Warth und den weiteren Ab- und Aufstieg am Lech nach Lech. „Hasenfluh“, „Zit lo“ und „Olympia“ sind die Synonyme für essen und nächtigen dort.Lech

possible

Der Quelle entgegen

Fünf Tage Geh-Erfahrung sind mittlerweile in den Füssen. Tägliche Impulse und Gedanken im Herzen und Kopf. Das letzte Stück vor uns. Der Lech hat abgenommen, obwohl er für manche immer noch sehr imposant ist. Und er nimmt weiter ab, je weiter wir in das Tal zurück gehen. Von rechts und links wird er mit großem oder kleinem Wasser gespeist. Die  Spruchkarte „It always seems impossible until it’s done“ (Nelson Mandela) begleitet unseren Aufstieg auf diesem wunderbarem Wegstück. Das Schönste zuletzt. „LECH“ ist mit Steinen ans Ufer gelegt, wo der Spullerbach dazustößt. „Er heißt Lech bis zur Quelle“, lässt unsere Hasenfluh-Wirtin Barbara keinen Zweifel: „So haben wir es in der Volksschule hier gelernt.“ Formarinbach, wie auf den Karten zu lesen ist, ist falsch. Ich streiche die Bezeichnung gleich durch. Lech. Klar: Wir sind am Lechweg. Das nehmen wir fix mit. Das Wasser wird klein, es fällt uns nochmals als Wasserfall entgegen und dann – die Quelle. Wir staunen, sind still, suchen in den Steinen, wie das Wasser hervortritt. Wir halten inne. Vom Fall zur Quelle. Und hier ist sie. Wir stehen und schweigen. Unglaublich. Nach sechs Gehtagen da. Und ringsherum Schnee. Uns fröstelt, weil wir stehen. Wir gehen weiter hinauf zum Formarinsee. Der Pfad ist trotz Schnee gut erkennbar und begehbar. Wir sind alle im Schnee und im Schweigen. Es ist so still. Der Lech und sein Plätschern scheinen uns zu fehlen. Beim See-Blick oben angekommen, spüren und zeigen wir uns gegenseitig freudig und auf vielfältige Weise: Schön, dass wir gemeinsam da sind. Ab nun geht es wieder heimwärts, zurück nach Lech, übernachten, noch in der Kirche einkehren und die Öffis verteilen uns in Österreich und Deutschland. #Danke. Im Juni 2021 kommen wir wieder. Hier die Details

FormarinseeAm letzten Tag in Lech hat uns Christa Weinzierl mit einem „Lechgedicht“ überrascht, das ich hier dokumentieren möchte. Danke.