Conchita Wurst: Vom Design zum Sein

cwurstDerzeit wird Österreich, Europa und vielleicht die ganze Welt hin und her geworfen. Da ist eine Conchita Wurst gewinnt einen Song Contest. Die Stimme ist hervorragend und doch nur nebensächliche Basis im Ranking. Der Bart einer Frau bewegt die Gemüter, rührt sie an bzw auf. Heute sind die Skeptiker, Zyniker und Zweifler still. Sieg ist angesagt und Österreich ist tolerant, liberal und weit. Morgen – an den Stammtischen – kann es schon wieder anders werden. In jedem Fall wurde an diesem Wochenende in aller Welt das fast unmögliche Neue aus Österreich zelebriert. Ich selber empfinde eine tiefe Freude über dieses Ereignis, das mehr Respekt und Toleranz den verschiedenen Lebensformen gegenüber bringen möge. Dauerhaft.

Außen und Innen begegnen in aller Offenheit

Meine Wahrnehmung in den letzten Jahren war, dass unsere Gesellschaft den Dreischritt vom Haben zum Sein und weiter zum Design geht oder gegangen ist. Das Sein ist der tiefste Wunsch jedes Mensch. Da-Sein ohne am Äußeren hängen zu bleiben. Den tiefsten Kern in mir selber leben dürfen ohne den dauernden Stress, ihn kompatibel nach außen darstellen zu müssen. Wer in der Medienwelt agiert, kennt diese unglaubliche Spannung. Es geht (fast) immer um das Äußere, das Design, das Produkt, das Hergestellte. Conchita Wurst ist für mich insofern ein „Wunder“, weil es ihr gelungen ist, den Kipp-Punkt nach innen nicht nur anzudeuten, sondern zu überschreiten. Es geht um ihre Identität, um ihr tiefes inneres Wesen, das nach einem adäquaten und respektierten Ort draußen in der festgelegten Geschlechter-Hierarchie und Moral sucht. Und da ist einiges „zerbröselt“ an diesem Abend. Kein äußerer Jubel bei Conchita selbst, sondern so etwas wie „Aufgelöstheit durch innere Freude“. Bisher habe ich noch keine namhafte kirchliche Stimme gehört. In der Geschlechterfrage und den dazugehörigen Rollen gehört „die Kirche“ auch zu den „Betonwerken“. Da ist nicht viel fluid sondern hart kristallin. Nach wie vor, wenn man den Glaubenspräfekten Müller hört. Auf Facebook macht in diesen Stunden die „Hl. Wilgefortis“ (hl. Kümmernis) die Runde: eine Frau mit Bart. Der Name bedeutet „von starkem Willen“.

Eine Geschichte aus dem Heiligenlexikon

wilgefortis„Wilgefortis ist eine legendäre Volksheilige, deren Wurzeln in der Frühzeit der Christianisierung Deutschlands liegen. Nach der erstmals im 15. Jahrhundert in den Niederlanden bezeugten Legende war sie die Tochter eines heidnischen Königs von Portugal, die Christin wurde und – um der Vermählung mit einem heidnischen Prinzen zu entgehen – Gott bat, ihr Aussehen zu entstellen. Als ihr daraufhin ein Bart wuchs, ließ der erzürnte Vater die Widerspenstige mit Lumpen bekleidet ans Kreuz schlagen, damit sie ihrem himmlischen Bräutigam gleiche. Die Sterbende predigte drei Tage lang vom Kreuz herab und bekehrte viele Menschen, darunter auch ihren Vater. Er ließ sie nun in kostbare Stoffe hüllen und errichtete nach ihrem Tod eine Kirche zur Buße.“ So steht es im Heiligenlexikon.  Es war immer das Anliegen Gottes, die christliche Welt katholisch, weiter, „weitend“ auf die bestehenden und herrschenden „Systeme“ zu halten. Die Enge war in dieser Welt oft die Siegerin. So musste ein „Wunder“ stattfinden, um die Enge der Menschen zu weiten. Möge der auf Design und Äußerlichkeit aufgebaute Song Contest ein großer Hinweis auf das Sein jedes einzelnen und jeder einzelnen bleiben. Toleranz und Weltoffenheit sind die erhoffte Folge. Insofern ist Conchita Wurst auch ein Anstoß hinein in die Kirche, hinein ins Wesentliche, ins Tolerante und Weltoffene.

1 Kommentar

  1. danke ferdl, für diese profunde Auseinandersetzung und die mir bis dato unbekannte dazupassende Heiligenlegende – toll!

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