Das Vieh im Stall

Unsere WeihnachtskrippeNach mehreren Jahren habe ich meine Cousine und ihren Mann zufällig in einem Gasthaus getroffen. Beide sind von einer Wanderung eingekehrt. Genauso wie wir. Irgendwie haben wir uns aus den Augen verloren. Beide sind vor kurzem in Pension gegangen. Er hat am Finanzamt gearbeitet und sie daheim den Bauernhof mit dem Vieh versorgt. [Eine Stallgeschichte, die im Buch nicht mehr Platz gehabt hat.]

Die Milchkühe waren ihre Leidenschaft, ihre Aufgabe, ihre Regelmäßigkeit, ihre Anstrengung, ihre Herausforderung und mit der Zeit auch ein Problem. Milchkühe brauchen beim Melken ihre Regelmäßigkeit. Eine Bäuerin ohne Melkroboter ist „gezwungen“, zweimal am Tag zu füttern und zu melken. Da gibt es kein Kneifen oder „heute nicht“. In einer Zeit der variablen Selbstkreation kann so eine Situation schon als sklavisch gesehen werden, wenn keine innere Berufung zu diesem Ganzen zusammen mit den Tieren da ist. Ähnlich ist es übrigens beim regelmäßigen Stundengebet in der Kirche. Wer sich näher mit dem Dasein als Bauer oder Bäuerin auseinandersetzt, wird sehen, dass das Geld oder hohes Einkommen das nicht wettmachen kann. Das kleinbäuerliche Einkommen reicht zum Auskommen. Da braucht es viel intrinsische Motivation, innere Freude am Tun, um wenig auf extrinsische Antreiber angewiesen zu sein.

Beide erzählen, dass sie nach der Pensionierung des Mannes jetzt endgültig mit der Landwirtschaft aufgehört haben. Das Vieh wurde verkauft, der Stall stand seit ein paar Monaten leer. Sie haben diese regelmäßige Arbeit schon als Beschwerung, irgendwie als „Zwang“ erlebt. Keines der Kinder wollte diesen Ball aufnehmen und den Betrieb weiterführen. Sie haben sich schließlich für die „große Freiheit“ entschieden. Natürlich waren nach so vielen Jahren Tränen dabei, als das Vieh aus dem Stall abtransportiert wurde. Der Gedanke an die neue Freiheit hat hier weitergeholfen. Sie schmiedeten Pläne, verreisten viel und waren auf der Suche nach einem neuen Alltag ohne diese regelmäßige, zwingende Aufgabe im Stall.

Sie waren viel wandern. Am Beginn, so erzählten sie, waren diese Ausflüge und Wanderungen eine ganz tolle Erfahrung. Pure Freiheit. Zweckfreies Lustwandeln in der Natur. Sie haben es wirklich genießen können. Und doch war da etwas, was immer mächtiger wurde. Die Gespräche der beiden wurden weniger und jeder hat etwas in seinem Herzen wachsen gehört, was er und sie nicht einfach an- und aussprechen konnte. Eines Tages sitzen sie auf einer Alpinhütte beim Frühstück. Der Tag versprach, einfach schön zu werden. Sie genossen die gemeinsame Zeit auf den Wegen in den Bergen. Und doch. Da war etwas, was kräftig und mächtig im Raum stand. Beide haben sich nicht aussprechen getraut, was ihnen so gefehlt hat. Mein Cousine fasste sich den Mut und sagte zu ihrem Mann: „Mir fehlen die Kühe.“ Er ganz spontan darauf: „Mir auch. Ich habe es mir nicht zu sagen getraut.“ Sie auch nicht. Sie waren froh, es ausgesprochen zu haben, was ihnen gefehlt hat. Dieses regelmäßige „in den Stall gehen“ und die Liebe zum Vieh. Sie haben ihre Wanderwoche fertig gemacht, sich daheim wieder Vieh eingestellt. Alles hatte auf einmal eine große befreite Leichtigkeit. Wie ein tiefes Ritual gingen sie wieder in den Stall. Und wenn sie einmal Hilfe brauchten, weil sie für ein paar Tage „frei“ sein wollten, waren die Kinder zur Stelle und haben sie ersetzt. Auch befreiter, wie sie meinten.

Ich selber stamme von einem Bauernhof ab. Öfter habe ich bewundernd zu meinem Bruder und meiner Schwägerin gemeint, dass sie das Stundengebet mindestens so intensiv leben als so mancher Priester oder Mönch. Dieser Rhythmus zu einer bestimmten Tageszeit in der Regelmäßigkeit mit der fundamentalen Erfahrung zusammen in der Tierwelt prägt. Auch wenn er oft als zwingend erlebt wird, gibt der Rhythmus und die konkrete Aufgabe doch Halt. Das merken wir erst, wenn die Aufgabe nicht mehr da ist. Rituale und Rhythmus wollen und können helfen. Können allerdings auch Zwang werden, wenn der innere Zugang nicht mehr gegeben ist.“

Jeder Mensch braucht Rituale, ein Rhythmus kann helfen, dazu eine Aufgabe, die in einem größeren Rahmen steht, um sich zugehörig zu fühlen. Wenn nach Weihnachten wieder so vieles durch den Lockdown3 still gestellt wird, dann fehlt den Menschen genau das. Die Aufgabe, größere Rituale und eine tiefe Zusammengehörigkeit. Das fehlt überigens auch den Flüchtlingen in den Flüchtlingslagern von Lesbos. Daher die tiefe Bitte: Holen wir sie auf rascheste Weise nach Österreich. Wir haben Platz.

Hier die Geschichte im Video.