Um 10 Uhr vormittags ist mein Termin. Mit meiner bunt bemalten „Bergziege“ (so nennen die Enkelkinder mein gemeinsam bemaltes Fahrrad) reite ich hinüber in die Impf- und Teststraße. Von weitem sehe ich eine Menschenschlange. Schilder weisen uns den Weg. Testen oder Impfen scheidet die Kommenden. Heute bin ich nicht testen, sondern impfen. Ich zische vorbei an der Test-Schlange. „Kommen sie“, hören meine Ohren mit einladendem Unterton.
Seit mehr als einem Jahr wird unserem privaten und öffentlichen Leben ein einziges Thema aufgedrückt. Wir kennen die pandemischen Keywords zur Genüge. Die Auflistung hier erspare ich uns. „Impfen“ hat eine soteriologische Dimension angenommen, wird eine erlösende Wirkung zugeschrieben. Von Beginn an war mir klar, dass ich die medizinische Wissenschaft mit ihrem in der aufwändigen Forschung entwickelten Produkt in Anspruch nehmen werde. Ganz gleich, welches Produkt gerade gereicht wird. Natürlich mache ich mir die innere Tiefenstruktur des Lebens, des Immunsystems, der Selbstheilungskräfte bewusst. Das Virus – ganz gleich wie es in diese Welt kam – sehe ich als globale Bedrohung wie den Klimawandel oder den aktuell auflebenden Turbo- oder Katastrophenkapitalismus. Das ist nicht „sachte“, wie man heute in Indien oder Brasilien sieht. Der Befragungsbogen ist schnell ausgefüllt. Freundlich werde ich in die Reihe geschickt, wo ich gleich der Nächste bin. Die Ärztin klärt mich mit fester, freundlicher Stimme auf, bis hin zu den ganz seltenen wirklich unschönen Nebenwirkungen. Ein tiefes Vertrauen zum Leben spüre ich in diesem Moment beim Ein- und Ausatmen. Ich nicke und sage spassig: „Wenn ich auf die Straße gehe, ist das mindestens so gefährlich.“ In diesem Moment zeigt sie mir die leere Spritze, nimmt das kleine Pflaster. Danke sage ich und Danke meine ich. Welch ein Privileg, „geschützter“ leben zu dürfen. Beim „Nachsitzen“ auf Abstand treffe ich Bekannte. Trotz Maske ist uns allen eine Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Wir möchten ermutigen: Wer es fassen kann, möge die Impfung nehmen. Gemeinsam schaffen wir den Weg da raus.