Der Weltpilgertag immer am 25. Juli markiert eine Erinnerung, die eine besondere Resonanz in mir wachrüttelt. Gehen. Pilgern. Wandern. Natur. Menschen. Für die Impulsmappe „Pilger der Hoffnung“ – auch Pilgerin – im Burgenland habe ich diesen folgenden Beitrag verfasst. >>
Was hält uns lebendig? – fragt die Sozial- und Erziehungswissenschafterin Marianne Gronemeyer in einem Artikel über die zwei Kulturen von menschengemachter Sicherheit: „Die conviviale Sicherheit entsteht aus dem Vertrauen auf das Gegebene, auf die in der jeweiligen Lebenswelt vorgefundenen Möglichkeiten, die zu immer neuen Formen der wechselseitigen Entfaltung drängen: zu diesen Gegebenheiten gehören die Gaben der Natur ebenso wie die Begabungen der Menschen; ihre Fähigkeit, einander zu begegnen und sich zu verständigen, die Geschicklichkeit ihrer Hände, ihre Erfahrungen, Phantasien und Träume, ihre Lust am Lernen und Tätigsein – und ihre Bereitschaft, es sogar unter widrigen Umständen, leidlich miteinander auszuhalten. Diese Möglichkeit, sich hinreichend sicher zu fühlen, tragen wir also am eigenen Leibe, denn wir Menschen sind an sich sehr gut geeignet, unser Leben convivial, d. h. in gedeihlichem Miteinander zu meistern und die Natur ist an sich in der Lage, es mit uns auszuhalten. Alles in allem beruht diese Sicherheit darauf, dass wir uns den Unwägbarkeiten des Lebens als daseinsmächtige Wesen gewachsen fühlen in dem Bewusstsein, dass wir nun einmal sterblich sind und dem Tod sein Daseinsrecht inmitten des Lebens einräumen.“ Ein langer Satz, der einlädt, immer wieder gelesen und bedacht zu werden. „Convivium“ heißen die Pfarrhäuser in Osttirol. Es sind jene Gebäude, wo zusammengelebt wurde, um die verschiedenen Dienste am Menschen gut erfüllen zu können: Bildung, Seelsorge, Nächstenhilfe. Dort sollte sich das Leben entlang der verbündenden Werte, von Ritualen und Symbolen in tiefer Solidarität entfalten. Convivial heißt mit allen Sinnen und vor allem haptisch (angreifbar) gemeinsam Leben gestalten, einander wirklich zu begegnen, weil Beziehung heilt.
Das befreit wirklich
Hochgehalten wird derzeit allerdings ein anderes Lebensmodell. Gronemeyer nennt es „technogen“. Papst Franziskus spricht in #LaudatoSi vom technologisch-technokratischen Welt- und Menschenbild. Der Mensch und die Welt wird als Maschine oder zumindest maschinenähnlich gedacht. Fabian Scheidler hat das Buch „Die Megamaschine“ vor ein paar Jahren in die Welt geworfen und genau diese mächtige, allgegenwärtige Techno-Logik herausgeschält. Gronemeyer schreibt über diese technogene Sicherheit, in der wir uns gerade befinden und die wir immer weiter ausbauen: „Nicht das Zusammenspiel der in einer Gemeinschaft vorhandenen Kräfte und Talente, sondern die Spitzenleistungen der Besten, die sich in anstachelnder Konkurrenz zu immer größeren Anstrengungen anfeuern, lassen ein Mehr an Sicherheit erhoffen. Sicherheit ist dann nicht im Spiel mit den Gegebenheiten zu suchen und zu finden, sondern in der Herstellung eines wissenschaftlich-technischen Milieus. Immer neue Gefahrenquellen werden von den zuständigen Thinktanks aufgespürt, immer neue Risiken entdeckt und durch technische Prävention unschädlich gemacht. Nicht mehr einzelne Personen und Gemeinschaften entscheiden, welches Maß an Sicherheit ihnen genügen soll, damit die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt wird, sondern die Sicherheitsstandards, die nach Maßgabe des technischen Fortschritts ständig neu justiert werden.“ Sicherheit wird in der ausgefeilten Technik gesehen und Lösungen heutiger Probleme in der Erfindung neuer technischer Tools. Das unersättliche Bedürfnis nach Sicherheit ist der perfekte Motor der Wachstumsgesellschaft, die auf Versorgungslücken nur mit der Vermehrung der Vorräte reagiert, niemals mit der Mäßigung des Begehrens. Eine „Glückliche Genügsamkeit“ oder das „einfache Weniger“ werden als destruktiv betrachtet. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass ein einfaches, ein waches und ein gemeinsames Leben die Lösungslinie andeutet. Die tief drinnen liegende Dynamik eines technogenen Lebens ist: größer, schneller, mehr. Das conviviale Leben kennt die „freiwillige Selbstbegrenzung“ und den „heiteren Verzicht“ (Ivan Illich). Askese ist nicht lebensfeindlich, sondern der Genuss des Wesentlichen im Weniger. Jetzt sind wir beim Pilgern angelangt. Das Leben hat im Rucksack Platz und die Lösungen kommen dir am Weg entgegen, in den Begegnungen, Gesprächen, Hilfsangeboten. Pilgern heißt für mich: Geöffnet sein für das, was uns entgegenkommt, neugierig zu sein auf die, die uns von ihrem Leben erzählen wollen. Die tiefste Sicherheit liegt in den Händen der anderen, liegt für uns Glaubende in der Hand Gottes. Das befreit wirklich.
Der Laib Brot und der Krug Wein
Das Urbild der Konvivialität ist der gastliche Tisch, um den sich die Tischgenossinnen und Tischgenossen zum gemeinsamen Mahl und zur freien Unterredung versammeln. Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, der gebrochen und miteinander geteilt wird, ein Krug Wein, der ausgeschenkt wird, und eine Kerze, die für den oder diejenige steht, die vielleicht an die Tür klopfen und Einlass begehren. Eine Tischgesellschaft darf nie geschlossen sein. Die Tischgemeinschaft lebt davon, dass die Menschen leibhaftig beieinander sind, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und einander vertrauen, gerade weil sie einander das offene, ungeschützte Antlitz zeigen. Kein Platz für Maske und Show, Heucheln und messendes Vergleichen.
Die Brennpunkte der Ellipse
Für mich habe ich vor allem beim Gehen und Pilgern das elliptische Denken entdeckt. Das Leben hat immer zwei Brennpunkte wie bei einer Ellipse. Rechter Fuss, linker Fuss, Vergangenheit, Zukunft, Mann, Frau, Eltern, Kinder, Mensch, Gott, woher, wohin. Es geht nicht um das Eine oder das Andere. Das UND ist entscheidend. Ist ein Brennpunkt gefunden, kreist er nicht um sich selber, sondern sucht den Anderen, gerade auch im Fremden. Offene Augen, offene Ohren, ganz im Jetzt gehe ich meine Pilgerpfade. Ich spreche wildfremde Personen am Weg bewusst an, um ihre Lebenswelt kennenzulernen. 98 % erzählen mir, zum Teil richtig spannende Geschichten aus ihrem Leben. Das sind dann die „Hoffnungstöpfe“, aus denen ich selber durch Erinnerung im Alltag schöpfe.
Wohin schaue ich?
Der technogene Lebensstil führt mittlerweile dazu, dass drei Menschen an der Koppentraun im Salzkammergut neben der Hütte stehend im Handy herumsuchen, welche Speisen die Hütte anbietet und welches Bier. Der Hüttenwirt und ich beobachten sie von 20 Meter Entfernung. „Hallstatt ist in der Nähe und da schauen die Leute lieber am Handy, bevor sie sich von der Realität irritieren lassen“, meint der Wirt etwas süffisant. Es beginnt zu regnen. Wir sitzen unter dem Vordach und erzählen einander Erlebtes. Die Drei gehen ohne Regenschutz weiter. Sie sind ziemlich nass geworden, haben wir später gesehen. Das Aufschauen und die Begegnung hätte sie trocken gehalten. Aber vielleicht halten sie es mit Bob Marley: „Some people feel the rain, others just get wet (Die einen spüren den Regen, die anderen werden nass)“. Wer am Weg Begegnungen sucht, wird das Leben eher treffen.
Tipps:
- Beginnen sie ein Gespräch mit Fremden mit einer Beobachtung, die die jeweilige Person „ehrt“ (So viele schönen Blumen an den Häusern. Die Dorfkapelle ist schön gerichtet. Was machen die Menschen hier vorwiegend beruflich? …).
- Lassen sie sich einladen und nehmen sie die offene Gastfreundschaft behutsam an.
- Reservieren sie bis drei Personen keine Unterkünfte, sondern lassen sie sich vor Ort „helfen“. In meinem Leben gab es immer einen Kopfpolster.
- Fragen sie Menschen und nicht das Smartphone.