I am the leader of charity here: We need no goverment – we help ourselves

Das wird ein langer Tag. Und es wird ein mit allen Facetten bestückter Tag. Auf die „Viet Village“ weit im Osten hat mich schon am zweiten Tag ein Mann aufmerksam gemacht: Es lohnt sich, dort hinzufahren. So starte ich mit dem Bus 94 in Richtung „East“ und rechne mit etwa einer Stunde Fahrzeit. Es ist unglaublich, wie ausgedehnt New Orleans mit der Einfamilienhaus-Siedlungsweise ist. Immer wieder sehe ich das Wasser stehen und ich habe den Eindruck, wir fahren durch die „Swamps“ (Sümpfe). Es geht vorbei an der NASA. Vom Bus aus sehe ich ein Raketentriebwerk und denke: ganz schon groß.

Nicht mehr als 1 ½ Meter über dem Wasserspiegel

Wir biegen von der Hauptstraße ab und ich übersehe die Haltestelle bei der Kirche. So urgiere ich meinen Ausstieg bei der nächsten Möglichkeit. Eigentlich suche ich die „Viet Village Farm“. Ich habe schon schematische Darstellungen in einem Schaukasten der Tulane-University gesehen. Eine Schule bietet sich an nachzufragen. Es ist die Einstein-Public-School. Ich mache drinnen Fotos und werde gleich aufmerksam gemacht: No pictures. Sie können mir  nicht helfen. Sie kennen keine Farm. So schlendere ich an den schönen, flachen, sauberen Häusern vorbei. Große Autos zeugen von Wohlstand. Ich komme zur Kirche. Ein Mann klärt mich auf, dass sich  in dieser Gegend vorwiegend Vietnamesen angesiedelt hätten, ebenso Mexikaner und „ein paar Schwarze“. Insgesamt sind es um die 5.000. Es ist alles unglaublich sauber. Kein einziges vernageltes Haus. „Alle sind wieder gekommen“, meint er und macht bei der Rasenarbeit weiter. Die Kirche, der Hof und die Gebäude sind der Mittelpunkt dieser Gegend. In der Kirche bin ich alleine, aber im Hof kommen mir Leute entgegen. Einer scheint der Chief zu sein und ich spreche ihn an.

Sie warteten nicht auf die Hilfe der Regierung

Ich frage ihn, ob das alles unter Wasser stand. Ja. Seine Hand zeigte auf Hüfthöhe. Wenn ich ringsum schaue, dann waren alle Häuser und Gebäude einen Meter unter Wasser. Auch die Kirche? Ja. Und er sprach recht offen: „I am the leader of charity here in the parish. After Katrina we came back as soon as possible – about three weeks. We need no goverment. We help ourself  and all together“,  meinte er in einem vom Vietnamesisch geprägten English. Er hat es eilig, weil er zwei ältere Menschen mit dem Auto transportieren soll. Die „Pfarrsenioren“ haben sich getroffen. Er schildert noch kurz , wie alle zusammengeholfen haben. Ich frage, wann am Sonntag die Messe ist. „Um 11 Uhr – in English“, meint er und ich werde wieder kommen. Soweit ich sehe bin ich hier auf das stärkste Gemeinwesen (Commons) gestoßen mit unglaublicher Resilienzfähigkeit. Ich möchte noch mehr sehen und nachfragen: am Sonntag.

Das „Diözesanhaus“ hat unten eine massive Barriere

Mein nächstes Ziel heute ist das Diözesanhaus der Erzdiözese New Orleans. Einige haben mir schon vom legendären und im September mit 98 Jahren verstorbenen Erzbischof Hannan (1913-2011) erzählt. Das Begräbnis muss berührend und ein unglaublicher Massenauflauf gewesen sein. Er war Konzilsteilnehmer und Intimus von Präsident Kennedy. Er hat bewusst in den 60-er-Jahren einen schwarzen Weihbischof genommen als positives Zeichen zur Überwindung der Rassenprobleme. Er war sehr sozial eingestellt und hat praktisch geholfen, wo es nur ging. Ich bin überzeugt, dieser Mann hat die Stadt über Jahrzehnte geprägt wie Kardinal König die Kirche Österreichs und Bischof Zauner und Aichern die Diözese Linz. Kurz gesagt: Im Haus der Erzdiözese komme ich nicht über die Hürde der Portierin, „die niemand erreichen kann, der mir etwas zur Erzdiözese sagen kann“. Es ist 11.30 Uhr. Ich solle morgen um 13 Uhr kommen, meint sie und ich verlasse das Haus. Im Dahinschländern auf der Straße denke ich: Dort in der Pfarre diese lebendige Zelle der Kirche und da der „verwaltende Haufen“.

Street-Car auf der St. Charles Ave

Die Fahrt mit der Street-Car auf der St. Charles muss man gemacht haben, heißt es. Deswegen war sie übervoll. Sie fährt durch den „garden district“ vorbei an wunderschönen Häusern und Gärten. Als Baumwolle und Zucker um 1840 zu boomen begannen, sind hier „in den Feldern hinter dem  Hafen  die Herrschaftshäuser“ entstanden. Ich steige bei der Loyola-University aus und „erkunde die Möglichkeiten dort“. Musik und Spiel sind hier zentral. Ein wunderbarer Palmenhof würde das Inskribieren nahelegen. Zwei Professoren unterhalten sich angeregt über Finanzplanung und das Musical, das von den MusikstudentInnen aufgeführt wird, ist ausverkauft. Ich warte auf die Rückfahrt. Die Trasse der Straßenbahn benutzen viele als Laufstrecke. Dazu hätte ich jetzt direkt Lust. Ich steige wieder ein und fahre 25 Minuten zurück in die Canal Street, „Ausgangspunkt für alles“.

Einmal den Mississippi überqueren

Um den heutigen Kreis von Osten in den Westen noch zu vervollständigen, fahre ich mit der Fähre hinüber in das Stadtviertel „Algier“. Im 19. Jahrhundert von ankommenden Afrikanern besiedelt, hat sich auch dort ein unglaubliches Zusammengehörigkeitsgefühl und Nachbarschaft entwickelt. So haben sie – sagt man – Katrina sehr bald überwunden gehabt und wichtige Gebäude wieder in Gang gebracht. Es ist die Abendstimmung, die ich genieße und die Skyline von New Orleans. Auf der Fähre bitte ich einen Mitfahrenden ein Foto von mir zu machen. Wir reden weiter und er erzählt, dass er von Honduras kommt und in einem Hotel arbeitet. Was er verdient will er  mir nicht sagen. Schade, aber ich bin überzeugt, dass es noch immer „Sklavenarbeit zu einem Hungerlohn mit Ausländern gibt“. Er bekommt übrigens nur Geld, wenn sie Arbeit haben. Jetzt überlegt er, wieder nach Hause zu fahren. Aber womit? Mir kommen die vielen Obdachlosen auf manchen Straßen in den Sinn und denke noch viel  mehr an jene Schicksale, die sich nicht auf die Straße trauen. Unter dieser Skyline spielt sich wirklich das „ganze Leben“ ab. Und ich erlebe vieles aus der Sicht von unten und aus der Sicht der Musik.

Apropos Musik

Auch wenn der Tag schon lange ist, so möchte ich ihn heute intensiv mit Musik ausklingen lassen. Auf dem Weg in die Frenchman Street entdecke ich das tolle „Cafe Maspero“ in der Decatur Street (teurer French Quarter). Mein Hunger will mit „Jambalya“ (Reisfleisch mit Meeresfrüchten, Fleich und Wurst und Salat) gestillt werden. Dazu trinke ich drei Glaserl weißen Hauswein. Die Atmosphäre ist alt, urig und ehrlich. Der Preis für alles 12$. Das Maspero wird mich öfter sehen. Es ist unglaublich, wie viel Live-Musik auch während der Woche geboten wird. An diesem Abend genieße ich fünf Gruppen und einen Klavierspieler, der alle begeistert hat. Die Musiker bilden ebenfalls Commons. Sie spielen in verschiedensten Zusammensetzungen. Einzelne tauchen immer wieder mal bei einem anderen Ensemble auf.  Am Gehsteig unterhalten sich zwei Musiker ganz intensiv darüber, wie der eine „in dieser Szene hineinkommen kann“. Nachdem sie fertig waren, frage ich den Bassisten, mit dem ich mich dieser Tage schon unterhalten habe, wie er das sieht: Man hilft sich gegenseitig und wenn einer oder eine gut ist, „dann brauchen wir sie ohnehin“. Wohlgemerkt: Alle diese Leute leben von der Musik, von den Geldern der BesucherInnen und dem CD-Verkauf. Ich habe auch schon drei Stück im Rucksack. Um 0.30 Uhr komme ich „heim“. Dort eröffnet mir man, dass ich die beiden kommenden Nächte nicht bleiben kann. Na dann, gute Nacht.