Ich nehme den Stock, den ich am Mühlviertler Mittellandweg am ersten Tag aufgenommen habe. Er lehnt seitdem seine Tage bei unserer Haustüre. Der Bus bringt mich nach Linz, wo ich von Gründberg über die weiten Wiesen auf den „Park der Erinnerung“ (Urnenhain) zugehe. Den Stock mit dabei. Meinen Volksschulweggefährten August Kerschbaumer tragen wir heute zu Grabe. Und den Stock lasse ich ihm dort.
„Magst du ein paar Worte sagen“, hat mich Manfred gebeten, als er mir den Partezettel vorbeigebracht hat. Ganz spontan: „Gerne“. Und heute ist es soweit. Bei der Verabschiedungsfeier hat der Diakon seinen Lebenslauf erzählt, dann haben Bilder sein Leben gezeigt oder angedeutet. 1956 im Herbst geboren. Und dann hat er alle Stationen aufgezählt, die August, den wir alle Gust gerufen haben, bis zuletzt hin, als er im Heim seinem Ende entgegengewartet hat. Eine Grippe mit etwa 20 Jahren hat seinem Leben eine Wendung gegeben, die ihn nicht mehr belastbar werden ließ. Schlosser, Botengänger und Frühpension waren im aufgegeben bzw möglich. Was wir von ihm nie vergessen werden, ist seine Musik, seine Klarinette, die er bei jeder Gelegenheit mit anderen zusammen oder alleine gespielt hat.
Nach den Bildern bin ich hinausgegangen, habe in die Mikrofone gesprochen, was mir am Herzen lag, wenn ich an Gust denke. Etwa so: „Ich stehe hier mit meinem Stock und im Gehgewand mit unglaublich großem Respekt vor diesem Leben. Gust ist am Weg in die Volksschule bei uns daheim schon müde angekommen, weil er von unten kommend mehr als eine halbe Stunde gegangen ist. Am Weg hat er Sepp Fröller aufgenommen, der auch vor geraumer Zeit gestorben ist. Manchmal ist er kurz in die Küche gekommen, hat sich gesetzt, um dann mit uns den fast einstündigen Weg bergauf weiterzugehen. Der Schulweg hat uns verbunden, vor allem der Heimweg. Oft haben wir gestritten, haben aber umso mehr Spaß und Abenteuer erlebt. Heute kann ich es sagen, dass wir mehrmals eine kleine Meisterschaft gehabt haben. Wer schafft es am weitesten von Baumwipfel zu Baumwipfel zu „springen“. Hin und her schaukeln und dann den Mut fassen: jetzt. Die Schutzengel hatten alle Hände voll zu tun. Und heutigen Eltern erscheint soetwas unglaublich. War auch nicht gescheit, aber lustig. So war unser langer gemeinsamer Schulweg.
Wenn ich ein Wort mit Gust verbinde, dann ist es dieses. Er ist in der Bank aufgestanden und musste einen Satz vorlesen, den er verfasst hat. Noch heute höre ich ihn: „Dann fuhren wir arschlings mit dem Roller den Berg hinunter.“ Arschlings. Das war das hochdeutsche Wort (für damalige Verhältnisse war das so) für „narschling zruck“, oder so. Verkehrt. Etwas verkehrt machen können. Und so bin ich 2019 sozusagen „arschlings“ (contrario) den Benediktweg gegangen. Gust gab die Tonalität dazu. Gust hatte es nicht leicht. Oft haben uns über Jahre aus den Augen verloren. Fix war immer, dass er seine Klarinette dabei hatte. Vor allem auch in der Zeit seiner Frühpension. Ich erinnere mich, wie er am Sonntag in den Gottesdienst gekommen ist und mitgespielt hat. Dann wollte ich ihn einmal zu einem Solo bei der Firmung überreden. Das war ihm zu steil und er blieb weg. Ich habe zu wenig hingehört, was für ihn machbar und zumutbar war. Eine Freundin unserer älteren Tochter hat heute bei einem Telefonat erzählt, dass sie damals mit dem Bus ins Bergdorf gefahren ist. Bis dahin und nachher nie mehr hat sie erlebt, dass sie mit Musik im Wartehäuschen empfangen wurde. Gust hat dort einfach seine Melodien gespielt. Einfach so aus sich heraus. Das haben manch an ihm belächelt, aber ich bin überzeugt, dass sie ihm neidig waren, dass Musik aus ihm herausfloß, immer zur Freude, auch für ihn selber.
Wenn ich heute auf das Leben von Gust schaue, dann war es kein einfaches Leben, oft am Rand, in Ermangelung von Wertschätzung. Es sei hier ganz klar gesagt, dass Gott+ seine Augen nicht auf die Perfekten, die Erfolgreichen, die Leistungsträger, die Gscheiten richtet, sondern auf die Brüchigen, die Vagabundierenden, die Suchenden, die Sorglosen, die Musizierenden. Ein Schüler hat am Ende des Jahres meinen Unterricht einmal so zusammengefasst: „Dass alles gut ausgeht.“ Gust war von diesem tiefen Vertrauen getragen, dass alles gut ausgeht, auch wenn es gerade nicht gut ausschaut. Seine Mutter, seine Geschwister und am Schluß sein Bruder Josef haben ihm dieses Vertrauen immer wieder erlebbar, möglich gemacht, haben für ihn gesorgt, dass alles gut ausgehen kann. Danke.“
Bei der Feier wurde musiziert, gebetet, getrauert, auch geschmunzelt. Für mich spürbar war, dass er gut unterwegs ist im neuen, anderen Leben. Wir gehen zum Grab, beten und legen Blumen hin. Meinen Stock lehne ich an die Mauer: Gust, nimm ihn und geh.