Durchschnittsfalle und Hochleistungsdesaster

Die Frage nach den Genen, den Talenten und den Chancen ist durch alle Medien geeilt. Markus Hengstschläger hat mit dem Buch „Die Durchschnittsfalle“ wieder einen Bestseller gelandet. Das kann heute schon prognostiziert werden. Er ist ein begnadeter Wissenschaftler und was noch mehr zählt: Er kann die Welt in einfachen Bildern mit Begeisterung erklären. So lese ich das Buch. Im  Vorfeld haben wir schon das eine oder andere Gespräch darüber geführt.

Individualität ist alles

Wenn ich hier meine Anmerkungen mache, dann beanspruche ich für mich die Grundthese des Buches: Es sind meine individuellen Bemerkungen. Dazu ruft der Autor auf fast jeder Seite auf. Lebe deine Individualität. Ohne Individualität gibt es keine hohen Überlebenschancen. Der Durchschnitt ist das rote Tuch. Der Durchschnitt ist ein Würfel mit immer dergleichen Augenzahl auf jeder Fläche. Gegen jede Gleichmacherei spricht sich das Buch aus, gegen Tendenzen, alles am Durchschnitt zu messen. Ich ergänze hier, dass ich in meiner individuellen Sicht auch glaube, dass uns tatsächlich die „Flucht aus der Excel-Zelle“ gelingen muss. Das ist der größte Individualitätshemmer in unserer Zeit. Was nicht in eine Liste passt, das darf es nicht geben. Eindrucksvoll schildert Hengstschläger Beispiel um Beispiel, warum es so wichtig ist, die Individualität zu entwickeln, alte Wege zu verlassen, das ganz Andere positiv zu sehen und die Ergebnisse von Gene, Talent und Üben nicht zu werten. „Nicht gut oder schlecht, sondern individuell“ lautet eine Zwischenüberschrift. Das kann ich nur unterstreichen.

Solidarität kann alles

Wer den Autor kennt, weiß, dass er ein umtriebiger und „treibender“ Mensch ist. Seine im Buch immer wieder kehrenden Beispiele (Fußballer Messi, Sängerin Garanca oder Albert Einstein) legen für mich eine „Hochleistungsdynamik“ in die Ausführungen. Gegen Ende des Buches wird die für mich so wichtige „Empathie“ kurz angesprochen. Allerdings schwingt für mich auch dort wieder mit, dass diese Fähigkeit notwendig ist, „um etwas Besonderes  zu leisten“. Erfolg ist ein Schlüsselwort. Das ist mein dauerndes Unbehagen während des Lesens: Es geht um Höchstleistung. Und spätestens hier fallen mir die vielen Gespräche und „Studien“ ein, um Oberösterreich in den verschiedensten Rankings wieder nach vorne zu bringen. Ich kann nur sagen: Eine Goldmedaille kann man nicht essen, sie pflegt keinen alten Menschen und sie lässt Zeit und Raum ausschließlich als „Leistungsraum“ zu. Das kollektive Burn-Out ist schon mehrmals artikuliert worden. Wer dauernd die Leistung in den Mittelpunkt stellt, wird zur Höchstleistung getrieben und spätestens dort besteht die Gefahr des „kollektiven Höchstleistungsdesaster“. „It’s allways competition“, führte die Schriftstellerin Janne Teller damals beim Symposium als den größten „Hemmer für die Entwicklung Jugendlicher“ aus.

Das rechte (Mittel)Maß

Dabei geht es um das rechte Maß, ja das „Mittelmaß“ (ist nicht der Durchschnitt). Und es geht nicht nur um individuelle Erfolge, sondern um das „solidarische Biotop, wo sich Charismen  im Dienst aneinander entfalten können“.  Eine breit ausgefaltete Individualität (Diversity) beinhaltet große Chancen zum Überleben. Zu kurz kommt meiner Wahrnehmung im Buches, dass eine ausgeprägte Solidarität und eine „Gemeinwohl-Denke“ mindestens so wichtig ist für ein Weiterkommen in die Zukunft hinein. Die Kehrseite der exzessiven Individualität ist die Einsamkeit. Deshalb sollten wir nicht nur individuelle „Leuchttürme“ voranstellen, sondern unsere Augen auf  „Commons-Leuchttürme“ (neues gemeinsames Leben) richten.
In jedem Fall können wir dem zustimmen: „Viel interessanter als ein Haufen Gleichgesinnter ist doch eine Gemeinschaft der Ungleichgesinnten.“ Individualität und Gemeinschaft – Hand in Hand.