Nicht einmal ein Tropfen auf dem jetzt wieder trockenen Lower 9th Ward

Leute sagen: Dort sollte man sich nicht zu viel herumtreiben, besonders nachts. Gemeint ist der Lower 9th Ward, östlich des „industrial canals“ zwischen Mississippi und dem Industrieviertel, das großteils unter dem Normalwasserspiegel liegt. Dort standen 4.000 Häuser – bis Katrina. Aus dieser Gegend stammt Louis Armstrong (1901-1971) und einige weitere berühmte Musiker. Vor allem in den 1940er-Jahren wurde dieses „lower area“ besiedelt. Vor allem Schwarze und Arme könnten sich diese Gegend „leisten“. Die Kriminalität war hoch. Die Nachbarschaftshilfe und das gemeinsame Leben allerdings ebenso.  Und jetzt? Ich fahre mit einer gewissen Anspannung mit dem Bus 84.

Fast wie ausgestorben

Der Busplan sieht eine „Rundfahrt“ vor. Ich fahre diese Runde mit. Die Gegend ist wie ausgestorben. Nach meiner Schätzung fehlen 70% der Häuser. Von den übrigen sind die Hälfte unbewohnt und die anderen so recht und schlecht. Es waren einmal 4.00o Häuser. Vor allem vorne am „levee“ (Damm: Es gibt T-Shirts zu kaufen mit der Aufschrift – Make levees not war!) fehlen 90% der Häuser. Das Holz und der Schutt sind weggeräumt. Beklemmende Gefühle kommen hoch, wenn noch die Aufgangstufen da sind und das Haus fehlt. Dort, wo ich jetzt zu Fuss unterwegs bin, ist der Damm gebrochen und das Wasser wie ein Riesenschwall über die Häuser hereingebrochen. Ich bleibe eine lange Zeit stehen und stelle mir das vor. Es ist unvorstellbar. Verständlich, dass diese Gegend zwar wieder besiedelt werden soll, aber der Zuzug sich in Grenzen hält. Das hat verschiedene Gründe: Die dauernde Erinnerung an das Desaster. Die arme Bevölkerung kann sich die Rückkehr nicht leisten. Die Formalitäten sind extrem kompliziert, um zu Förderungen zu kommen. Die Stadt bietet nicht genug Arbeitsmöglichkeiten.

Neue bunte Häuser  mit „green technology“

„Make it right“ nennt sich jene Organisation, die medienwirksam über die ganze Welt bekannt wurde durch das Aufstellen der pinken Häuser und das Engagement von Brad Pitt. Ziel ist, etwa 150 Häuser mit „green technology“ zu errichten. Aus meiner Sicht stehen bis heute 50-70 in dieser Gegend. Genau gezählt habe ich nicht. Es ist aber überschaubar. Es sind sehr schöne Häuser. Stararchitekten haben ihnen eine Form gegeben. Ein Mann erzählt mir, dass er glücklich ist, hier zu wohnen. Er betont aber, dass zu wenige Leute da sind und ist stolz, weil auf der Nachbarparzelle der Bagger angerückt ist. Bei mir selber denke ich: Diese große Aktion in Ehren – aber das ist in Anbetracht des Ausmaßes nicht einmal der berühmte Tropfen. Es ist aber wie bei so vielen anderen Dingen in der Welt: Eine gute PR-Arbeit lässt die Leute darüber reden und das ist zum Teil schon Hilfe genug.  Ich bin überzeugt, dass dieser Stadtteil (so wie andere auch) erst wieder wachsen und belebt werden kann – von Menschen, die hier ihren Lebensinhalt sehen – Brad-Pitt-Aktion hin oder her.

Ein Fleckerl „Urban Farming“

In einer Zeitung in einem Kaffeehaus lese ich, dass Frau Jenga Mwendo (33) die Gründerin des Backyard Gardener’s Network ist. Natürlich halte ich Ausschau – und werde fündig. Eine kleine Tafel kündet von der Eröffnung dieser „urban farm“. Ich muss an meine Schwiegermutter denken, die mir ihren 88 Jahren einen eigenen Garten in der Siedlung betreibt. Eine klassische Urban-Farmerin. Sie weiß noch alle Ätzes, wie etwas wächst und wie man eine Familie selbst ernähren kann. Hier in  der Deslonde Street ist es der Versuch, mit community-gardening sich selbst zu versorgen. Ich habe den Eindruck: Hier muss wieder viel Knowhow zurückgewonnen werden. Wenn in einer amerikanischen Stadt überhaupt Gemüse wächst, dann höchstens im Supermarkt. Der Mensch hat viel verlernt und viel an Abhängigkeit gewonnen. Ich wandere den Damm entlang und steige in eine andere Buslinie ein. Dort sind wir 10 Leute, vor allem junge. 80% davon haben Stöpsel im Ohr oder spielen am Handy. Ein älterer Herr und ich unterhalten uns recht und schlecht über das Leben in New Orleans.  Er schaut in die Bus-Runde und meint sinngemäß: Wo soll das noch hinführen? Ich nicke nachdenklich und denke an die verkümmerte urban farm.

Leiste einfach deinen Beitrag

Heute wage ich das erste Powernapping am späten Nachmittag. Das tat gut. Dann suche ich das Kaffehaus „envie“ auf. Ich nehme Platz und und Zeit nachzusinnen. Die hübsch Kellnerin schaukelt den Betrieb alleine. Das Haus atmet Vergangenheit und keine andere Zukunft als die vergangene. Nur die Laptops weisen auf das Heute hin. Ich sitze mit meinem analogen Tagebuch da. Ein guter Platz, um nachzudenken. Beim Herfahren hat mir eine ältere Frau ihr T-Shirt mit einem Spruch so hergehalten, dass ich ein Foto machen musste. Was ist der Mensch? Was sind die Weltgestalter wie Obama? Heute denke ich: Viele Dinge lassen sich nicht gestalten, sondern entstehen um Werden. Weil so viele Menschen IHREN Teil tun, entsteht der Fluss des Ganzen. Das envie ist gleich in der Nähe des Mississippi. Glauben wir nicht immer noch zu oft, etwas gestalten, machen zu müssen? Heute denke ich: Es wird – oder eben nicht. Wichtig ist mir: Leiste DEINEN Beitrag zum Ganzen – und das ganz. Alles andere wird. Lächerlich, was die Weltgestalter alles zur Rettung der Welt „aufführen“. Paul Lendvai schreibt heute in einem Kommentar im Standard: „Die Politiker müssten Risiken eingehen und in der ersten Person sprechen.“ Mein Beitrag in der Ich-Form ist gefragt.

Die Kellnerin bedient einen jungen Mann. Er hat die Ohrstöpsel drinnen. Sie will etwas nachfragen. Er hört nicht, weil er hört. Sie stellt ihm den Kaffee hin und er schaut sie an. Sprachlos. Sie dreht sich um. Er auch. Ein Stück individuelle „Bedürfnisabgleichung“ hat nicht stattgefunden. Er weiß es nicht und sie macht einen verwunderten Eindruck. Die Macht der „smart divices“. Distanz ist angesagt, oder? Irgendwie habe ich Lust, in die Frenchman Street zu gehen, Musik zu hören. Nein, heute geht es „heim“.