Wider den Gehorsam

999_IMG_5430Der Winter ist so richtig eingezogen. 12° Minus stärkt das Selbstbewusstsein des Kachelofens. Bücher, die schon längst gelesen werden wollen, bekommen ihre Chance. Da liegt Dorothee Sölle und dort Martin Werlen. Daneben das Büchlein, das wieder einmal eine Relektüre verdient. Beim letzten Mal war die Aufmerksamkeit ohnehin schmal. Heute, nach einem weiten Winter-Gehen ist die „aufmerksame Muse“ da. Die grüne Füllfeder soll heute auch „markieren und unterstreichen“. Gehorsam ist doch im kirchlichen Kontext ein „rotes Wort“. Da stecken viele Emotionen drinnen. Eines der Gelübde der Ordensleute steht „am Spiel“. Umso aufmerksamer lese ich, entstehen beim Lesen „Kontexte, Konnotationen und Erfahrungen“. Konkrete Personen und ihr „Habitus“ im Umgang mit Medien oder öffentlichen Auftritten ziehen wie im Film vorbei.

Wörtlich zitiert

IMG_5433Eine Passage Seite 21f finde ich immer wieder lesenswert: „Der Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee fragt in seinem Roman Warten auf die Barbaren: ‚Wieso ist es für uns unmöglich geworden, in der Zeit zu leben wie die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, wie die Kinder?‘ Damit deutet er an, dass authentisches Erleben in einer Kultur wie der unsrigen nicht möglich ist, denn sie verherrlicht den Verstand und macht ihn zum Problem, indem sie von Geburt an unser Gefühlsleben verkümmern lässt.“ Innehalten. In die eigene Kindheit hineinspüren. Dann zustimmen. Ja, das „Gefühlsleben ausleben“ war nicht unbedingt oberstes „Erziehungsprinzip“. Jahrgang 1957.

Ich lese weiter

„Wir verdammen uns dazu, in unserer Geschichte zu leben, schmieden jedoch ein Komplott gegen diese Geschichte, indem wir durch die subtile Art des Gehorsams dazu gebracht werden, von Gedanken beherrscht zu werden, um im Wettbewerb nicht unterzugehen. Wir befinden uns deshalb in einem ständigen Überlebenskampf, dessen Ziel es ist, nicht abgewertet zu werden und vor allem nicht zu versagen. Was authentisches Erleben sein sollte, wird so irrational, weil die Angst unterzugehen oder zu versagen, Menschen die Möglichkeit raubt, mit den ursprünglichen Lebenskräften ganz unmittelbar in Kontakt zu treten und diesen Kontakt auch aufrechtzuerhalten. Alles wird zum Ausdruck eines Überlebenskampfes, dessen Ziel es ist, nicht abgewertet zu werden und vor allem nicht zu versagen. Leben als Ausdruck von Liebe, von empathischen Wahrnehmungen und menschlichem Mitgefühl, geht verloren. An seine Stelle tritt die stets lauernde Angst vor der Ohnmacht.“

Wege aus dem Gehorsam

Ab Seite 65 weist Arno Gruen Wege aus dem Gehorsam. Alle „Hochkulturen“ haben diese „psychologischen Mechanismen“, um das Verhalten des Menschen zu bestimmen. Seine jahrelangen Arbeiten führen ihn zu dieser Überzeugung: „Die Basis unserer ‚Hochkultur‘ ist das Bestreben, die Welt im Griff zu haben, sie zu besitzen, zu beherrschen und gleichzeitig für Mechanismen zu sorgen, die eine Verleugnung und Verschleierung dieser Motivation bewirken. Und diese Verschleierung basiert auf dem Motto: Wir verfügen über dich, weil es zu deinem Besten ist.“ Und Seite 72 bringt Gruen „unser Dilemma“ heute auf den Punkt: „Die Ohnmacht, die aus dem Verlust der eigenen Wurzeln entsteht, weil man dem Gehorsam unterworfen wurde, weckt im Menschen einen inneren Zwang, Macht und Besitz über alles zu stellen. Das aber führt dazu, dass sich der Mensch von sich selbst entfremdet.“