Wie das Neue in die Organisation kommt

Ende September 2011 war ich bei einer internationalen Konferenz, wo das Neue den Weg in die bestehenden Organisationen gesucht hat. „Dieser Tag war ein Glück – nicht nur für mich!“, schrieb ich damals am Ende des Beitrages. Es war tatsächlich ein Glück. Seit der Zeit bin ich mit Michael Shamiyeh persönlich verbunden. Viel zu selten sehen oder treffen wir einander. Sein Büro mit Blick auf den Hauptplatz in Linz ist für mich immer eine Inspiration, ein Gedankenaustausch, der nicht nur von Kopf zu Kopf geht. Mein letzter Besuch hat das Thema von der Konferenz wieder aufgegriffen: Wie kommt das Neue in die Organisation? Im aktuellen ON haben unsere gemeinsamen Überlegungen Eingang gefunden. Ich hoffe, nicht nur für Ordensgemeinschaften, ihre Werke und Einrichtungen interessant. Hier der ganze Artikel.

Vorgegebene Denkmuster und Grenzen ausloten

Michael Shamiyeh hilft Organisationen beim gemeinsamen Aufspüren, Entwickeln und Implementieren von Neuem. Er fördert sie, aus eigener Kraft innovativer zu werden. Er hat in Harvard und St. Gallen studiert und ist leitender Universitätsprofessor am Design-Organisation-Media (DOM) an der Kunstuniversität in Linz. Er kennt die „Ordenswelt“ aus eigener Erfahrung. Als Ursprung für schöpferische Ideen sieht er konkrete Menschen: „Innovation beginnt bei der Person. Bei einem Menschen, der sowohl die Fähigkeit besitzt, als auch den Willen aufbringt, Wissen aufzunehmen und in ungewohnter Weise neu zu kombinieren, bis sich die einzelnen Teile plötzlich zu neuen Ideen fügen.“ Seine Kernfrage in allem lautet: „Wie werden Ideen für die Zukunft Wirklichkeit?“ Es gilt, vorgegebene Denkmuster und deren Grenzen auszuloten. „Es braucht Freiraum für Experimente.“ Das sieht er auch bei den Ordensgemeinschaften und in ihren Werken und Einrichtungen.

Das Neue muss sich plausibel machen

Shamiyeh arbeitet mit internationalen Konzernen wie Kodak. „Die ersten digitalen Ideen wurden nicht aufgenommen, weil sie sich zu wenig plausibel und alltagstauglich im Vorstand dargestellt haben. Selbst nach massiven Geschäftseinbrüchen wollten die Verantwortlichen die Entwicklung nicht wahrhaben.“ Deshalb pocht Shamiyeh darauf, „dass sich das Neue als notwendig und Sinn machend sehr plausibel und konkret darstellt. Das Neue muss die Frage beantworten: Warum soll ich das Neue wagen?“ Das Neue muss für alle zukunftsfähig sein. Das Neue muss eine Notwendigkeit sein. Auslöser ist häufig eine massive Bedrohung. Aber: „Wer sich bedroht erlebt, reagiert meist nicht mit Weite, sondern mit Enge und Festhalten am Gewohnten. Bedrohung erzeugt sehr oft eine intensive Rückwärtsgewandtheit.“ Ganz entscheidend in solchen Situationen ist der externe Input. Beispiel: Zeitungen erleben heute massiv die Bedrohung durch das Internet. Deshalb rät der in Strategischem Management ausgebildete Shamiyeh: „Es braucht jemanden, der aus der Bedrohung selbst kommt, damit ihr adäquat begegnet werden kann. Ich ermutige: Öffnen Sie sich für Leute, die nicht aus dem „Betrieb“ kommen, die keine Ordensleute sind. Sie können Weitblick und Offenheit stiften. Oder gehen Sie selber ungeschützt hinaus an Orte, die nicht die Ihren sind, und hören sie gut zu. So entstehen Inspirationsquellen.“

Ein klares Bild von der Zukunft

Wie in die Zukunft gelangen? Shamiyeh: „Von der Zukunft her denken. Es gibt drei Methoden, in die Zukunft zu gehen: 1. Die Vergangenheit unverändert ‚verlängern’. 2. Das Jetzt analysieren und ‚zukunftsfit’ machen. 3. Das Jetzt von einem gemeinsam erstellten Zukunftsbild her denken und heute das tun, was dem Bild entspricht. 1 und 2 sind die gängigsten Varianten. Die den Orden am entsprechendsten ist die 3. Jeder Gründer und jede Gründerin hat mit einem klaren, konkreten Zukunftsbild gearbeitet.“ Aber: Wie begeistert man Menschen von einem neuen Zukunftsbild? „Ganz einfach, man lässt sie die Idee wortwörtlich begreifen: mit Prototypen, mit realen Bausteinen, Grundelementen des Neuen, der Zukunft. Visionen werden dadurch anschaulicher, die Idee selbst kann schneller entwickelt, verfeinert und anschlussfähig gemacht werden. So wird die Zukunft nicht nur gedacht, sondern getan. Und das ist das Entscheidendste, das Tun.“ Der Organisations-Designer sieht für jede Gemeinschaft und Organisation die entscheidende Frage darin: „Was ist unser Auftrag, unsere Mission heute? Wer diese Frage nicht mit einem klaren und konkreten (gemeinsamen) Zukunftsbild beantworten kann, wird den Weg in die Zukunft schwer gehen können.“

Das Neue muss Sinn machen

„Parallele Autonomie“ nennt der international anerkannte Organisationsfachman das Schlüsselverständnis: „Das Neue entwickelt sich am ehesten in einem eigenen Kontext parallel zur laufenden Organisation mit hoher Autonomie.“ Shamiyeh weiß von Firmen, die dem Neuen eigene Produktionsrhythmen zugestanden haben, die später den Normalbetrieb geprägt haben, weil sie sich bewährt haben. Er fragt: „Wie ist das heute bei Ordensfrauen oder -männern mit den wichtigen Gebets- oder Mahlzeiten, wenn sie ganz normal in Arbeitsprozesse eingebunden sind? Das verlangt aus meiner Sicht den Raum für Varianz. Ordensleute erproben, wie der arbeitende Mensch in heutigen Kontexten spirituell geöffnet bleiben kann, ausgerichtet auf Gott.“ In jedem Fall muss das Neue „Sinn machen“. Neu um des Neuen willen braucht es nicht. Entscheidend ist die Sinnfrage, die immer neu gestellt und immer neu beantwortet wird. Individuell und gemeinschaftlich.

Schrittweise oder grundlegend neu denken

Viele etablierte Unternehmen machen den Fehler, eine gute Idee schrittweise zu erneuern, um sie für neue Herausforderungen bestmöglich anzupassen. Das aber birgt die Gefahr, in einer Innovations-Sackgasse zu enden. „Die erfolgversprechendere Methode ist es, jede Herausforderung von Grund auf neu zu denken. Wenn man den Zukunftszustand für ein Produkt, eine Dienstleistung, eine Aufgabe anstrebt, wird der Boden für radikale Neuerungen bereitet. So folgen Gemeinschaften am direktesten dem Gründer, der Gründerin mit gelebter Innovationskultur, in der Arbeitsweise, den Überzeugungen und Werten.“ In jedem Fall braucht es Mut und ein Stück „Out of the Box“-Denken, will man den Anschluss an Heute und Morgen nicht verpassen. Seneca hat schon gewusst: „Nicht, weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ Einem Unbekannten wird das Graffiti zugeschrieben: „Das geht nicht, haben alle gesagt. Da kam einer, der wusste das nicht und hat es gemacht.“