Genau hinschauen ist der halbe Weg

Oper SpiegelgrundDieser Tage hat ein Freund auf Facebook bei einem meiner Postings dazu geschrieben: „Sehen, urteilen, handeln“. Mir kam in den Sinn, dass ich im Cardijn-Haus gehört habe: „Und feiern“. Immer wieder geht es aber zuerst um die ungeschminkte Wahrnehmung. Es ist kein Hinschauen mit der Fernsehkamera oder der Fotolinse, sondern ein Hinschauen mit offenen Augen, wirklich hörenden Ohren und einem geöffneten Herzen. Wer so „hinschauen“ kann, macht sich schon auf den Weg, ist schon unterwegs.

Spiegelgrund spiegelt den Grund

Gersten Freitag, 25. Jänner 2013, durfte ich bei der Uraufführung der Oper „Spiegelgrund“ von Peter Androsch im Parlament dabei sein. Am internationalen Holocaust-Gedenktag wurde dieses Triptychon, wie es der befreundete Komponist selbst bezeichnet, im Gedenken an die 789 Kinder, die in der sogenannten „Kinderfachabtelung Am Spiegelgrund“ in Wien umgekommen sind. Der Name Spiegelgrund steht für den unfassbaren Schrecken von NS-Euthanasie und Kindermord an unschuldigen kranken oder behinderten Kindern. Das Kind als genormtes Forschungsobjekt. Wer bereit ist, hier genau zu schauen, der wird diese unfassbare Kälte aufsteigen spüren. Die Musik war berührend und beklemmend zugleich. Ein ungeschminktes Hinschauen auf diese Tatsache, die manche der heutigen Zeitgenossen am liebsten vergessen wollen. Dabei ist genau das die Chance, den unfassbar unmenschlichen Systemen auf den Grund zu gehen. Nicht Liebe und Empathie prägten diese Zeit, sondern Herrschaft und Tyrannei, vor allem den Schwächeren, dem Kranken, dem „Anders-Sein“ und dem Fremden gegenüber. Bischof Maximilian Aichern habe ich getroffen. Er war der einzige Kirchenvertreter, der da war. Die neben ihm reservierten Plätze für „Kirche“ blieben leer. Er hat erzählt, dass Bekannte von ihm am Spiegelgrund gelebt und sogar gearbeitet und nichts bemerkt haben. Wir waren uns einig, dass das „systematisch Böse in einer Normalität daherkommt, dass es sehr schwer ist, es zu sehen“.

Und heute?

VotivkircheImmer, wenn ich bei solchem „Gedenken“ dabei bin, quält mich die Frage und die Frage bohrt in mir: Was übersehen wir heute? Wir reden über die Votivkirche. Ich sage zu Bischof Maximilian, dass ich oft dort bin und wir alle miteinander aufgrund der unglaublich starren Haltung im Innenministerium und der rigiden Gesetzesauslegung keinen Ausweg sehen. Ich habe mir vorgenommen, bei dieser Gelegenheit das Gespräch mit Präsidentin Barbara Prammer zu suchen. Ich nehme die Gelegenheit wahr und rede längere Zeit mit ihr. Sie war sehr aufmerksam und ganz bei der Sache der Refugees, die ich ihr erzählt habe. Ich wollte einfach mithelfen, dass sie sehen kann, was mit diesen Menschen dort passiert, die nicht den „Normen und Gesetzen“ entsprechen. Es erschüttert mich immer wieder, wie viele politische EntscheiderInnen sich zu Wort melden und nie am Ort des Geschehens geschaut, gehört und gefühlt haben. Ich bin dankbar für dieses Gespräch, weil ich aus erster Hand mitbekommen habe, dass es ganz oben Anstrengungen gibt, den Refugees „entgegenzukommen“. Wegschauen und totschweigen ist nicht mehr möglich. Die Medien haben hier einen besonderen Dienst zu leisten, indem sie genau hinschauen und die ungeschminkten Tatsachen darstellen. Ich treffe in der Votivkirche die aufmerksamen JournalistInnen. In der Komplexität ist es ohnehin nicht leicht, beim Anblick auch den Durchblick zu schaffen.

Musik und Gebet

OperKarl M. Sibelius hat bei der Oper als Sprecher fungiert. Auf seiner Facebook-Seite hat er nachher gepostet: „Guat is gangan, nix is g’schechn: Das war eine tolle Erfahrung: Oper im wunderbaren historischen Sitzungssaal…“. Ich konnte nicht anders als ein Posting zu hinterlassen: „Nix is g’schechn is net richtig. Es war berührend!! Drum is wos g’schechn!“ Diese Musik hat mich immer wieder „sehen“ lassen, wozu der verirrte Mensch fähig ist. Es war kein Ausweichen möglich. Kein Gramm Schminke wurde aufgetragen. Am kommenden Montag sind alle zum „Gebet der Solidarität“ eingeladen. Ich bin dankbar, dass sich die Kirchen so klar und eindeutig auf die Seite der menschlichen Sichtweise stellen. „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz…“ ruft bei mir zuerst diesen Imperativ auf: Schaut euch dieses Gesetze genau und ungeschminkt an und eliminiert schnellstens die Menschen verachtenden Anteile darin! Das habe ich bei Präsidentin Prammer auch positiv gehört, dass das unbedingt ansteht. Saison- und Sexarbeit sieht das Gesetz vor. In der Votivkirche höre ich immer wieder: Wir wollen einfach in Würde leben und dafür arbeiten. Die Musik vermag uns zu öffnen und das Gebet ist auch eine Öffnung der Herzen. Das ermöglicht ein „Sehen“, das gut einschätzt und handelt. Dann wird die Musik, die Liturgie, Essen und Trinken zu einer Feier des Lebens führen, zusammen mit Shahjahan Khan.