Weltanschauen und Pilgern am Weg des Buches

Schmugglerwege nachgehen

127 von 130. Diese Zahlenkombination werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. Der Weg führt nach einem kurzen Aufstieg steil hinunter „in d‘ Ramsau“, nach Ramsau. Dort erwartet uns die Pfarrerin Martina Ahornegger vor der Kirche. Es ist windig und etwas kalt, der Regen ist im Anmarsch. Schnell hinein in das wunderschöne evangelische Gotteshaus. „127 von 130 Familien haben sich nach dem Toleranzpatent 1782  nach 180 Jahren Geheimprotestantismus und Verfolgungen zum lutherischen Glauben bekannt“, erzählt die junge Pfarrerin mit einem respektvollen Blick in die Geschichte der Ramsau.

Der Weg des Buches führt in seiner ganzen Länge von Passau bis in den Süden Kärntens. Wir begehen und pilgern auf der Strecke zwischen Bad Goisern „im 10. österreichischen Bundesland Salzkammergut“ bis nach Tamsweg im Lungau. 36 Füsse suchen den Weg über die Berge und ebensoviele Hände suchen Halt an den Steinen und Felsen, wo von 1601 bis 1782 die deutschsprachigen Lutherbibeln geschmuggelt wurden, in Höhlen sich die Lutherischen getroffen haben und trotz katholischer Gegenreformation die Menschen bei ihrem Glauben geblieben sind. Wir begeben uns auf Weltanschauen.

Sozial und demokratisch

Tag 1: Schon die Erzählungen von Reinhard Winterauer und Joe Weidenholzer in Bad Goisern am ersten Tag nach dem Eintreffen der 18 Pilger:innen aus ganz Österreich offenbaren uns, dass die Seele des „Goiserers“ zutiefst protestantisch, also obrigkeitskritisch und nie untertänig tickt. Bei mir selber denke ich, wer 180 Jahre im Untergrund gemeinsam seine Lebenssichten, seinen Glauben, die Rituale und die Zusammengehörigkeit schafft, ist begnadet. Beim Rundgang durch den Ort treffen wir auf viele Früchte dieser „verborgenen und unterdrückten Solidarität“. Wir stehen am Denkmal des Bauernphilosophen, Landwirtes, Bäcker, Gastwirtes und Bürgermeisters Konrad Deubler, der 1814-1884 gewirkt hat. Mit der Gründung von Vereinen, einer breiten Bildung und einem Solidaritätsverständnis „mit allen“ wurde in Goisern der Grundstein für den heutigen Sozialstaat gelegt. Nicht verwunderlich, dass das Salzkammergut bis heute sozial demokratisch ist und sich in dieser Tradition sieht. Das Luise Wehrenfenning Haus gibt uns Unterkunft und Essen. Schon die ersten Eindrücke lassen uns erahnen und machen uns neugierig auf diesen besonderen Weg.

Reinhard Winterauer

Im Geheimen getroffen

Tag 2: Nach einem wunderbaren Frühstück starten wir am Labyrinth vor der evanglischen Kirche. Kinder kommen daher, gehen in die Kirche ihren Abschlussgottesdienst vorbereiten. Wir erzählen von unserem Vorhaben und gemeinsam singen wir das Lied: Geh mit uns, auf unserm Weg. Alle schultern die Rucksäcke mit den Sachen, die sie glauben, mittragen zu müssen. Viele gehen zum ersten Mal Weltanschauen. Ein langer Aufstieg von fast 1.100 Höhenmetern erwartet uns. Das Ziel ist die Goiserer Hütte, daneben die Kalmooskirche. Dorthin sind die Geheimprotestanten – sicher auch Protestantinnen – zu ihren Geheimtreffen von beiden Seite aufgestiegen: Bad Goisern und Gosau. Erste Rucksäcke zeigen sich als zu befüllt, zu wenig am wirklich Wesentlichen orientiert. Kleine Rasten, solidarisches Gehen, einander Helfen und ein Hingeben an die Anstrengung bringt uns alle hinauf, wirklich alle. Geschafft, und teilweise auch geschafft. Mittagsrast auf der Hütte. Das tut gut. Den Gehmodus verlassen, sitzen, eine Kleinigkeit wie Suppe schlürfen, trinken und wieder ins Reden kommen. Der steile Anstieg hat das Schweigen hervorgebracht. Auch ganz wesentlich. Beim Betreten der Höhle, der Kalmosskirche, bin ich zutiefst berührt. Hier mussten sich die „Andersgläubigen“ herflüchten, weil die (katholische) Herrschaft „das Andere und die Anderen“ ausgetrieben hat (Landler, Siebenbürgen). Der Weg hinunter nach Gosau ist nachdenklich, dazu gesellen sich Regentropfen und wieder ein Stück Steilheit des Weges. In Gosau erwartet uns das Haus der Begegnung mit einem Lager und einem feinen Abendessen. Trotz Müdigkeit gehen wir ein paar Schritte zurück zur evangelischen Kirche. Die junge und sprühende Pfarrerin Esther Eder macht uns die „Gosinger“ zugänglich. Auch hier ein tiefer Zusammenhalt, eine Kirche von den Menschen damals in einem Guß errichtet und bis heute die Bevölkerung zutiefst evangelisch. Die Pilger:innen schwärmen im Zurückgehen von dieser Pfarrerin, die hier ihre Berufung mitten unter den Menschen im Pfarrhaus wohnend lebt. „Solche Begegnungen tun einfach gut“, ein Teilnehmer, bevor wir zum frühen Schlafen gehen. Eine tiefe Müdigkeit und Zufriedenheit liegt in der Luft. Körperlich, mental und spirituell haben sich einige als Grenzgänger:innen erlebt. Der eine oder andere Rucksack wird „entschlackt“. Der Gosaukamm liegt vor uns in der Abendsonne.

Pfarrerin Esther Eder, Gosau

Das Gummiringerl hält

Tag 3: Nächtlicher Regen hat die Gegend gewaschen, Wolken hängen wir Vorhänge in die Landschaft, alles in Bewegung. Der Öffi-Bus bringt uns zum Vorderen Gosausee. Der Dachstein mit seinem Gletscher hat die Bühne noch nicht betreten, auch nicht nach der Auffahrt zur Gablonzer Hütte. Von dort geht es zu Fuß weiter auf der Südseite des Gosaukammes bis zur Theodor Körner Hütte, wo wir unsere Mittagsrast halten. Die Gruppe ist in ihrem Zusammenhalt gefordert. Steilheit und nasse Steine verbünden sich mit einer hemmenden und lähmenden Angst. Und doch: wieder alle da. Der zweite Geh-Tag ist fokussiert auf das Gehen. Gerade die Strecke zwischen Theodor Körner Hütte und unserem Tagesziel Hofpürgelhütte braucht als Gruppe sein Zeit, eben fast vier Stunden. Der Weg wunderbar, der steile Anstieg zur Durchgangsscharte schon fast Routine und mit einem Ausblick, der immer verleitet, den Blick auf den Weg zu verlassen. Hier spielt das Bild vom „Gummiringerl“ wieder eine besondere Rolle. Die Gruppe ist mental mit einem inneren Gummiringerl verbunden, das sich dehnen kann, aber nie reißen darf. Die Achtsamkeit den anderen gegenüber ist sozusagen die Grundvoraussetzung. Und der Gedanke, niemand soll vorne wegspringen und hinten abgehängt werden. Es gelingt uns die ganze Woche. Angekommen. Die ganze Gruppe schläft im Lager 18. Bei vielen kommt Jungscharlagerstimmung auf. Und es sei hier festgehalten: Alle schlafen gut, kein merkbares Schnarchen und die Erkenntnis: Der Mensch ist doch ein Rudelschläfer. Vorher genießen alle das von der Abendsonne ausgeleuchtete Panorama von Bischofsmütze, Dachsteinmassiv, steirisches und salzburgisches Gebirge bis hinüber im Westen das Tennengebirge. Ausatmen. Einatmen. Danke.

Convivial und/oder technogen leben

Tag 4: Immer soll genug Zeit zum Frühstück sein, so auch heute. Die tägliche Statio am Morgen bringt einen Grundgedanken, ein Wahrnehmen im Jetzt und ein gemeinsam gesungenes Lied. Unsere Gruppe hat einen guten Klang. Heute der conviviale und der technogene Lebensentwurf, die wieder in Balance kommen müssen. „Dort, wo Menschen singen, lass dich nieder, technogene Menschen singen keine Lieder“, dann ein Teilnehmer recht spontan. Singen bringt das Leben ins Schwingen, das Gehen die Seelen in Bewegung, macht Dinge fluider, lässt Anschauungen entlang von Perspektiven wachsen, sich verändern. Weltanschauen ist ein Anschauen, ein sich Hineinstellen in die Natur selber, die Mitwelt, in das Geheimnis des Lebens, für Pilger:innen in das Geheimnis Gottes.  Der Linzerweg hinüber auf die Sulzenschnaid (1.990 m) gibt Gelegenheit genug. Etwa vier Stunden brauchen wir, genießen wir, schauen und fühlen wir, lassen uns den Wind ins Gesicht blasen, bis wir das Gipfelkreuz in einem letzten steilen Anstieg erklimmen. Als Guide warte ich auf der Scharte auf jede und jeden einzeln. Wieder alle da. Ich bin selber angerührt von der Energie der Gruppe, die wirklich alle „mitnimmt“. Nach dem Abstieg zur Bachlalm genießen wir dort die Mittagszeit unter den vielen Radfahrern. Der Weg führt weiter hinüber zur Walcher Alm. Dort kehren wir in der Abendsonne noch kurz ein. Nach etwa 35 Minuten sind wir in der  Austria Hütte. Die Bischofsmütze ragt ganz weit entfernt heraus und wir sehen: weit kommt der Mensch zu Fuß. Andere behaupten, die Mütze schaut aus wie ein großer Fuß. Wir verneigen uns voreinander und wissen, dass drei Tage hinter uns liegen, die für manche „an der Grenze“, ja sogar drüber waren. Der Mensch schafft mehr als er im ersten Moment glaubt.

Am Linzerweg zum Rinderfeld

Widerstand als Lebensdynamik

Tag 5: Guten Morgen. Schon geht ein Lachen durch die Frühstücksrunde. Die darauf folgenden Schritte sind schon gefestigter, erfahrener. Die Sonne hat unsere Nasen im Visier. Rucksäcke passen. Der 15-minütige Aufstieg zum Roseggersteig hinunter in die Ramsau ist schnell getan. Fein und behutsam steigen alle ab, sind im flacheren Teil wieder in Gespräche verwickelt. Die Geschichte von den zwei Wölfen, die in uns leben, begleitet uns. Je nachdem, welchen Wolf du fütterst, der wird die Oberhand in deinem Leben bekommen. Gier, Egoismus, Gewalt oder Gastfreundschaft, Gemeinschaftlichkeit und Liebe, Compassion. Welchen Wolf füttere ich mit meinen Gedanken, in meinem Leben? Das Pilgern öffnet alle Sinne, um die Oberfläche des Lebens zu durchdringen. Die evangelische Pfarrerin Martina Ahornegger hat uns schon im Visier, öffnet die Kirchentore und wir sinken in die Kirchenbänke, nehmen diese Gastfreundschaft an. Es tut gut, die Füsse am vierten Tag des Gehens zu entlasten. Die junge Pfarrerin wurde mit hoher Mehrheit vor acht Jahren in diese Aufgabe, diese Berufung gewählt. Mit der Familie mit zwei Kindern lebt sie im Pfarrhaus. Sie erzählt das alles, was damals 1782 war (127 von 130 – siehe oben), wie sich das alles entwickelt hat und was heute die besonderen Herausforderungen in der Ramsau sind. Wir spüren: Sie legt ihr Herzblut in diese ihre Gemeinde. Nach zwölf Jahren muss sie sich wieder auf diese Pfarrstelle bewerben und sie kann wiedergewählt werden. Eine ganz sympatische, überlegte und engagierte Frau als Pfarrerin. Alle reden nach der Stärkung in der Verweilzeit (Cafè) im Hinuntergehen nach Schladming von diesem „Feuer“, das diese Frau mit persönlichem Einsatz schürt. In Schladming treffen wir Hannes Stickler. Er ist Leiter des Klinikums der Diakonissen und katholischer Diakon. Anna-Kapelle, Kirche und – extra nur für uns aufgesperrt – der Karner sind unser Weltanschauen. Dann das Stärkste: Seit 3 Jahren wird jeden Donnerstag um 18 Uhr mit dem Glockengeläut der evangelischen Glocken eine ökumensiche Mahnwache gehalten für faire Asylverfahren und Frieden in der Welt. 140 x standen hier immer wieder Menschen, um ihre Solidarität zu zeigen. Anlass war die geplante Abschiebung eines gut integrierten Lehrlings. Beeindruckend. Heute sind wir alle dabei und „helfen mit“. Gerade als Präsident der KAÖ ist es mir wichtig, hier solidarisch zu sein. Es ist uns zugefallen am Weg des Buches, am Weg der Widerständigen, der Aufrechten. Und Widerstand aus einem konstruktiven Geist heraus wird es bei den aktuellen Entwicklungen der Welt und Gesellschaft viel mehr brauchen . Einer der sieben Klänge zur Verlebendigung in meinem Buch lautet: „Widerstand als besondere Lebensdynamik“. Nicht Untertänigkeit oder Anpassung, sondern konstruktives Aufstehen gegen alle destruktiven und entsolidarisierenden Dynamiken entlang des Mammons, der alles zu regieren sucht, wird es brauchen, gerade von Christinnen und Christen. Wie kommt mehr Liebe in die Welt? Kleine Abendgespräche lassen den Tag ausklingen. Gute Nacht.

Kirche in der Ramsau

Staunen und Dankbarkeit wachsen

Tag 6: Der Öffibus fährt um 8.11 Uhr hinter dem Rathaus zur Ursprungalm (1.604 m). Ein besonderes Erlebnis, wie sich der Bus die 13 Kehren und 500 Höhenmeter hinaufschlängelt. Manche rücken in die Mitte, um nicht hinunterschauen zu müssen. Feuchtes, nebeliges Wetter erwartet uns. Wir starten gleich los hinauf zur Giglachsee Hütte (1.955 m). Dort kehren wir ein und werden in der vollen Gaststube wunderbar bedient. Alle rücken zusammen, auch die jungen Pfadfinder aus Belgien, die hier genächtigt haben. Der Hüttenwirt erzählt uns von der Entstehung der Hütte und dem Netz von Bioprodukten, die im Tal wachsen, gedeihen, gefüttert und hier verkocht werden, ökologisch nachhaltig und regional. Die Wolken heben sich. Der Znachsattel ist nach kurzer Zeit erreicht, der höchste Punkt (2.059 m) unserer Tour. Der Wind pfeift ordentlich, auch die Wolken werden mobil, heben sich. Der Blick Richtung Süden zeigt uns ein wunderbares Panorama, Berge, Wolken und immer wieder Wasserfälle. So geht der Weg kontinuierlich hinunter, das Staunen und die Dankbarkeit wachsen im selben Ausmaß. Die Dicktlerhütte gibt uns noch Stärkung, bevor wir zum Bus in Hinterweißpriach aufbrechen, ins Finale gehen. Der kommt um 16.45 Uhr pünktlich. Der Chauffeur nimmt uns mit und bringt uns außer Plan direkt nach Tamsweg vor unsere Unterkunft in der Pension Kandolf direkt am Platz. Die im Bus vergessenen Stöcke bringt er uns auch noch nach. Einfach schön, wie unkompliziert das alles abläuft. In einer Abschlussrunde erzählen wir einander noch, was wir vom Weg des Buches mitnehmen, beten noch ein Vater unser und singen wie am Anfang: Geh mit uns, auf unserem Weg. Mit einem feinen Abendessen klingt der Tag aus, lässt uns im Lungau gut ruhen und am nächsten Tag 7  individuell die Heimreise antreten. Diese Zeilen sind eine Ansammlung von winzigen Fragmenten einer großen Erfahrung.
Pace e bene.

Tamsweg