Dem convivialen Leben wieder mehr Raum geben

Alles SmartphoneKompass nennt sich das zweite Buch in DIE FURCHE und behandelt Gesellschaft. Seit 75 Jahren sucht diese Wochenzeitung eine tragfähige Spur durch die Wirren der Zeit. In der Ausgabe vom 7. Jän 2021 wird beispielsweise der allgegenwärtigen Sicherheit unter den Stichwort Covid19 nachgegangen. Dieser Sicherheit wird vieles geopfert. Ein lebendiges Miteinander, ein conviviales Leben wurde per Gesetz heruntergefahren. Eine technogene Sicherheit dagegen hochgefahren. Kann das gut gehen?

Die Sozial- und Erziehungswissenschafterin Marianne Gronemeyer ortet in Zeiten der Krise und Bedrohung in ihrem Artikel „Was hält uns lebendig?“ zwei Kulturen von menschengemachter Sicherheit: „Die conviviale Sicherheit entsteht aus dem Vertrauen auf das Gegebene, auf die in der jeweiligen Lebenswelt vorgefundenen Möglichkeiten, die zu immer neuen Formen der wechselseitigen Entfaltung drängen: zu diesen Gegebenheiten gehören die Gaben der Natur ebenso wie die Begabungen der Menschen; ihre Fähigkeit, sich zu verständigen, die Geschicklichkeit ihrer Hände, ihre Erfahrungen, Phantasien und Träume, ihre Lust am Lernen und Tätigsein – und ihre Bereitschaft, es sogar unter widrigen Umständen, leidlich miteinander auszuhalten. Diese Möglichkeit, sich hinreichend sicher zu fühlen, tragen wir also am eigenen Leibe, denn wir Menschen sind an sich sehr gut geeignet, unser Leben convivial, d. h. in gedeihlichem Miteinander, zu meistern, und die Natur ist an sich in der Lage, es mit uns auszuhalten. Alles in allem beruht diese Sicherheit darauf, dass wir uns den Unwägbarkeiten des Lebens als daseinsmächtige Wesen gewachsen fühlen in dem Bewusstsein, dass wir nun einmal sterblich sind und dem Tod sein Daseinsrecht inmitten des Lebens einräumen müssen.“ Auch in meinen Arbeiten zu meinem Anpacken-Buch habe ich von verbündenden Werten, von Ritualen, Symoblen und Aufgaben in einer tiefen Zugehörigkeit und Solidarität geschrieben. Gerade das aktive Musizieren, die gemeinsame Bewegung und Sport und die Kultur im Kreis und auf Bühnen sind essentielle Elemente eines convivialen Lebens, das ihre Widerstandsfähigkeit und ihre Sinngebung aus dem Inneren – intrinsisch – generiert. Genau dafür ist jetzt kein oder kaum Platz.

Technische Standards statt lebendige Balance

Hochgehalten und „überschattet“ wird derzeit alles von einem anderen Lebensmodell. Gronemeyer nennt es „technogen“. Papst Franziskus spricht in #LaudatoSi vom technologsich-technokratischen Welt- und Menschenbild. Der Mensch und die Welt wird als Maschine oder zumindest maschienenähnlich gedacht. Fabian Scheidler hat das Buch „Die Megamaschine“ vor ein paar Jahren in die Welt geworfen und genau diese mächtige, allgegenwärtige Techno-Logik herausgeschält. Gronemeyer schreibt über diese technogene Sicherheit, in der wir uns gerade befinden und die wir weiter ausbauen: „Nicht das Zusammenspiel der in einer Gemeinschaft vorhandenen Kräfte und Talente, sondern die Spitzenleistungen der Besten, die sich in „belebender“ Konkurrenz zu immer größeren Anstrengungen anfeuern, lassen ein Mehr an Sicherheit erhoffen. Sicherheit ist dann nicht im Spiel mit den Gegebenheiten zu suchen und zu finden, sondern in der Herstellung eines wissenschaftlich-technischen Milieus, das umso besser funktioniert, je vorausschauender die Experten sind. Immer neue Gefahrenquellen werden von den zuständigen Thinktanks aufgespürt, immer neue Risiken entdeckt und durch Prävention unschädlich gemacht. Nicht mehr einzelne Personen und Gemeinschaften entscheiden, welches Maß an Sicherheit ihnen genügen soll, damit die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt wird, sondern die Sicherheitsstandards, die nach Maßgabe des technischen Fortschritts ständig neu justiert werden.“ 1999 hat mir ein Coaching-Ausbildungskollege, der im IT-Bereich einer führenden Bank gearbeitet hat,  erzählt, dass die 100%ige Sicherheit sehr viel Geld kostet: „Um von 98 auf 100 zu kommen, verdoppelt sich der Einsatz.“  Das unersättliche Bedürfnis nach Sicherheit ist der perfekte Motor der Wachstumsgesellschaft, die auf Versorgungslücken nur mit der Vermehrung der Vorräte reagieren kann, niemals mit der Mäßigung des Begehrens. Eine „Glückliche Genügsamkeit“ oder das „einfache Weniger“ werden als destruktiv betrachtet. Nach wie vor bin ich überzeugt, dass ein einfaches, ein waches und ein gemeinsames Leben die Lösungslinie andeutet. Die tief drinnen liegende Dynamik eines technogenen Lebens ist: größer, schneller, mehr. Das conviviale Leben kennt die „freiwillige Selbstbegrenzung“ und den „heiteren Verzicht“ (Ivan Illich).

Das offene ungeschützte Antlitz

Es wird gelingen müssen, dass sich eine neue Art von Sicherheit breit machen kann, die nicht aus dem „kalten technogenen Milieu“ heraus konstruiert wird unter riesiger Verschwendung von Erdressourcen udn Schuldenanhäufung auf die nächsten Generationen.  Auch in #LaudatoSi spricht Papst Franziskus von einem neuen Paradigma, von einer Transformation hinüber in ein „sozial-ökologisch-spirituelles Menschen- und Weltbild“. Gronemeyer nimmt dafür das Urbild der Konvivialität, den gastlichen Tisch, um den sich die Tischgenossinnen und Tischgenossen zum gemeinsamen Mahl und zur freien Unterredung versammeln. „Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, der gebrochen und miteinander geteilt wird, ein Krug Wein, der ausgeschenkt wird, und eine Kerze, die für den oder diejenige steht, die vielleicht an die Tür klopfen und Einlass begehren werden. Denn eine Tischgesellschaft darf nie geschlossen sein. Die Tischgemeinschaft lebt davon, dass die Menschen leibhaftig beieinander sind, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und sich vertrauen, gerade weil sie einander das offene, ungeschützte Antlitz darbieten.“ Für mich habe ich das elliptische Denken entdeckt. Es geht nicht um das Eine oder das Andere. Das UND ist oder wäre entscheidend.  Es ist nur so, dass die technogene und technokratische Weltgestaltung derzeit die alleinige Sichtweise in der Krise geworden ist. Aus der Kraft der Wissenschaft UND aus der Kraft der Konvivialität sollte die Zukunft des Menschen geformt werden. Das Virus hat die Balance der beiden Brennpunkte gekippt. Als Beispiel  nenne ich die heilende und tragende Kraft der Kultur, die eingefroren wurde und auf deren Heilungskräfte wir im Gegensatz zur Bewegung in der Natur „verzichten“.
Massenhafte, ungeschützte „Spaziergänge“ sind kein Ausdruck von Konvivialität sondern eher von eingebildeter und arroganter Überheblichkeit. Meine ich.

Der ganze Furche-Artikel von Marianne Gronemeyer  in DIE FURCHE *1 ist dankenswerter Weise freigeschaltet.